Roman
Coen hatte sie belogen. Und Davis arbeitete als Journalist und Kriegsreporter für investigative Plattfomen, Wikileaks, Bellingcat und andere: „Timothy wird nicht wiederauferstehen. Er ist tot. Aber wenn Sie in seinem Sinne handeln wollen, sein Andenken bewahren wollen, dann geben Sie mir die richtigen Informationen.“
Mit tränenverschleiertem Blick hatte sie die Augen von dem Foto gelöst und auf ihn gerichtet: „Ich will denen schaden, die dafür verantwortlich sind.“ Er hatte genickt und ihre Hand ergriffen, sanft. „Miss White … Sienna … , nichts wird Timothy lebendig machen.“ „Ich weiß“, hatte sie geschnieft. Es folgte ein langer, stummer Blick. „Was brauchen Sie, Mister Davis?“ „Wann wer wohin reist, unter welchem Namen und wie lange.“
Und jetzt saßen sie hier im Pappardella und es stand ein Krieg im Raum. Sie wusste, es war gegen alle Absprachen, gegen seine Regeln, aber sie musste es wissen.
„Sehen wir uns wieder?“, flüsterte sie.
Da er nicht antwortete, schaute sie auf.
„Hoffentlich nach dem Sturm“, gab er zurück und sein Blick war frei von Zorn oder Vorwurf. Ganz im Gegenteil: Er war warm. Wie eine sanfte Berührung, die sie fühlte, obwohl sie ausblieb.
Nachdem Sienna White das Pappardella verlassen hatte und Jack Davis noch auf die Ravioli wartete, blätterte er in der Ausgabe der New York Times, die Sienna White absichtlich liegen gelassen hatte. Auf Seite elf fand er eine handschriftliche Notiz. Für die Zielperson, einen Oberst Michael Learner, waren fünf Hotels in Portugal für den identischen Zeitraum gebucht worden. Alle, das wusste Davis, würden bezahlt werden. Aber Sienna wusste, in welchem er tatsächlich einchecken würde: dem Da Gama in Olhão. Die Zimmer in den anderen vier Hotels würden leer bleiben.
Das war die entscheidende Information.
Davis, der seine Merkfähigkeit über die Jahre trainiert und gesteigert hatte, sog jedes Detail auf, bevor er mit der Notiz in der Hosentasche die Toiletten aufsuchte und sie dort säuberlich zerrissen davonspülte.
Für den Fall, dass man ihn beim Verlassen des Lokals verhaften würde. Was nicht geschah.
Da Gama in Olhão. 20. – 24. 09.
Dort würde es stattfinden. Der Coup. Die Rettung. Seine Mission. Alles.
TAG EINS
2
Der 24. September 2021 begann wie die Tage zuvor: Die Sterne waren verblichen, die Kühle der Nacht – 22 °C – schwand und ein paar Wölkchen zogen weiter nach Osten, Richtung Spanien. Sie schwebten einem Horizont entgegen, den die aufgehende Sonne bereits in Brand setzte.
Im Laufe des Tages würde wieder ein Azurblau den Himmel beherrschen, das es nur hier gab.
Um 4 : 47 Uhr meldete sich Desgraçado zu Wort, der Hahn in ein, zwei Kilometer Entfernung.
Desgraçado hatte eine kräftige Stimme, als Mensch hätte es zum Opernsänger gereicht. Der Wind, der vom Atlantik über die Ria Formosa strich, ein riesiges Naturschutzgebiet aus vorgelagerten Inseln an der Algarve, trug seine Stimme weiter hinein in den Ort.
So kam es, dass ihm kurz darauf im nördlichen Teil Fusetas ein zweiter Hahn nacheiferte, O Segundo, der immer vergaß, als Erster zu krähen. Ab 4 : 51 Uhr ertönte in der Folge ein vielstimmiges Krähen bis hoch nach Moncarapacho im Norden und bis nach Olhão, dem geschichtsträchtigen Fischerort im Westen mit den kubischen Bauten, der deshalb den Beinamen Würfelstadt trug.
Als der Weckruf der vielen Hähne gegen 4 : 56 Uhr abebbte, meldete sich im Nachbarort Arroteia, kaum größer als eine Siedlung, der erste Hund zu Wort. Sein Gebell wurde erwidert, erst ein-, dann vier-, dann achtfach. Das Kläffen der Vierbeiner pflanzte sich fort wie eine schnelle Flut, verzweigte sich, nahm Abkürzungen, konzentrierte sich an einer Stelle, schwappte weiter, unterlief einer Teilung und wurde dann nach einer Weile – genauer gesagt nach acht Minuten – wieder schwächer, um nach und nach zu versickern. Um 5 : 04 Uhr gab es noch ein letztes Knurren von Edma, einer korpulenten Bernhardinerhündin, die wie immer das letzte Wort hatte.
Fortsetzung folgt
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