Der Münster-Stürmer
Sportler der Woche Aufzug? Kommt gar nicht infrage. Normales Treppenlaufen? Auch zu langweilig. Leo Zanotti spurtet die Stockwerke hoch. Selbst der höchste Kirchturm der Welt ist nicht sicher vor ihm.
Also, es gibt einen Aufzug. Das schon. Nur, und das ist die schlechte Nachricht, es ist eben ein Lastenaufzug. Hilft also auch nicht. Wer zu Leo Zanotti will, der muss laufen. Vier Stockwerke nach oben, erst dann kommt seine Wohnung. Es ist wohl nur ein Zufall, aber der kommt ganz gelegen. Denn so kriegt man direkt ein Gefühl für das, was der 27-Jährige leistet.
Es fängt schon damit an, dass Zanotti bei vier Stockwerken noch nicht mal an einen Aufzug denkt. Auch nicht bei sechs. Oder acht. Der Ulmer nimmt immer lieber die Treppe. Geht ja auch oft schneller.
Zumindest bei einem Mann, der behauptet, normales Treppenlaufen fühle sich „sehr langsam an“. Der von sich sagt, er sei eigentlich schon sein ganzes Leben lang die Treppen hochgerannt. Der für 560 Münster-Stufen 3:12 Minuten braucht – und dem das immer noch zu langsam ist.
„Ich weiß nicht, was da los war“, sagt Zanotti. Er sagt es so, als wäre er gescheitert. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall. Zanotti hat gewonnen. Endlich. Beim diesjährigen Ulmer Münsterturm-Lauf im Sommer holte er den ersehnten ersten Platz. In 192 Sekunden auf 102 Meter. Das schaffte sonst keiner.
Und vielleicht hätte es auch Zanotti nicht geschafft, wenn es diese 18 Stufen in Jungingen nicht gegeben hätte. Und dieses tolle Geländer, an dem man sich „richtig schön hochziehen“ konnte. Zanottis Elternhaus, es war eine Art Grundausbildung für den Treppenläufer. Und praktischerweise lag sein Zimmer im Obergeschoss. Zanotti kannte die 18 Stufen irgendwann in- und auswendig. Doch irgendwann reichten sie nicht mehr. Irgendwann mussten es Königs-Stufen sein.
Sie führen 16 Meter hoch zu einem der spektakulärsten Aussichtspunkte über Ulm. Der König-Wilhelm-Turm bei der Wilhelmsburg – eigentlich ein Wahrzeichen der Doppelstadt. Für Zanotti war es ein Trainingslager. Wieder und wieder spurtete er den steinernen Turm hinauf. Wie eine Märchen-Figur, der der Prinzessin zur Hilfe eilt.
2016 war das, kurz vor seinem ersten Lauf aufs Münster. „Ich wollte überhaupt erstmal ein Gefühl kriegen“, sagt Zanotti. Er wusste ja gar nicht, was ihn erwartet. Der Ulmer war zwar ein passionierter Jogger, hatte auch schon bei ein paar Läufen mitgemacht. Doch keiner von denen war mit dem Münsterturm-Lauf auch noch annähernd vergleichbar. Ein Sprint auf den höchsten Kirchturm der Welt. Wie fühlt sich das an?
Unterschiedlich – das weiß Zanotti inzwischen. Man kann seine Gefühlslage als eine dieser Kurven beschreiben, mit denen der Mathematik-Doktorand im Alltag zu tun hat. Am Anfang verläuft sie relativ gerade. Es ist die Phase, in der Zanotti im Zwei-Stufen-Takt durch das Treppenhaus federt – und der Aufstieg noch einigermaßen machbar erscheint. Nur: Diese Phase hält nicht ewig.
Ungefähr ab der Hälfte schießt die Gefühls-Kurve steil nach unten. Jeder Schritt, jede Kurve, jedes Gezerre am Geländer wird zur Qual. Das ist die Phase, die Zanotti so begeistert. „Ich finde es echt faszinierend, dass es in so kurzer Zeit möglich ist, sich komplett machen.“
Zanotti macht das ganz gerne. Seit 2016 hat er an verschiedenen Treppenläufen teilgenommen. In Augsburg, in Esslingen – und immer wieder in Ulm. Zweimal wurde er Zweiter. Dann musste er lange warten. Das Münster wurde renoviert, der Lauf pausierte für sechs Jahre.
Umso größer seine Motivation dieses Jahr. „Es war schon mein Ziel zu gewinnen.“ Dafür joggte er wieder den Stein-Turm hoch. Dafür rannte er den Science Park entlang. Das Resultat: Platz eins – aber knapp zehn Sekunden langsamer als noch 2019. Etwas komisch fand es der 27-Jährige schon. „Vielleicht lag es daran, dass ich etwas erkältet war.“
Nicht so wie beim Einstein-Marathon. Dort lief Zanotti im September die 21 Kilometer. Und? Was ist anstrengender? Zanottis Antwort: Der Treppenlauf. Definitiv.