„Es ist wie in einem Science-Fiction-Film“
Schweiz Knapp fünf Monate, nachdem das Bergdorf Blatten von einer Horror-Lawine verschüttet wurde, kämpfen sich die traumatisierten Bewohner in ihr Leben zurück. In vier Jahren wollen sie das Örtchen wieder aufgebaut haben.
Auf dem schlammigen Feld steht ein grauer Container. Vor dem niedrigen Blechkasten harren Menschen aus. Es sind Einwohner des Schweizer Alpendorfes Blatten. Oder sollte man sagen: Sie waren Einwohner von Blatten? Schließlich ist ihr Dorf nicht mehr. Auf den Gesichtern der Wartenden spiegelt sich Bangen und Hoffen. Werden sie ein Stück aus ihrem untergegangenen Leben in Empfang nehmen können? Der Container dient als Fundbüro. Hier direkt am Eingang des Nachbarortes Kippel stapeln sich Fotoalben, Bücher und Ordner mit Heiratsurkunden, Zeugnissen sowie anderen Dokumenten aus guten Tagen. Blattens Bürgermeister Matthias Bellwald leitet die Verteilung.
Das 300-Seelen-Dorf galt einst als Perle des Lötschentals im urwüchsigen Kanton Wallis, der Fremdenverkehr gab vielen Blattnerinnen und Blattnern ihr Einkommen. Doch am Nachmittag des 28. Mai 2025 wurde Blatten quasi dem Erdboden gleich gemacht. Die Katastrophe hatte sich über längere Zeit angekündigt. Die Spitze des „Kleinen Nesthorns“, hoch über Blatten, war über Wochen, Monate und Jahre langsam in sich zusammengefallen. Gestein fiel auf den darunter liegenden Birchgletscher, der immer mehr Last tragen musste. Die Messstationen erkannten die Steinbewegungen, die Blattner aber waren gegenüber der sich anbahnenden Katastrophe machtlos.
Schließlich geriet der Gletscher am 28. Mai so richtig ins Rutschen, er brach ab. Gespickt mit Geröll, Bäumen, Erde und Eis polterte eine Lawine aus Millionen Kubikmetern auf Blatten. Der wilde Strom zerstörte Häuser, Gehöfte und Hotels, riss Straßen und Wege hinweg und zermalmte das Gotteshaus. Fast alle zunächst unversehrten Gebäude versanken im Schlamm der aufgestauten Lonza. Der Schutt türmte sich an einigen Stellen bis zu 200 Meter hoch. Die Blattner büßten so gut wie alles ein, was sie hatten.
Fachleute betonten nach dem Desaster: Eine Mitschuld des Klimawandels kann nicht ausgeschlossen werden. Die Zürcher Gletscherexpertin Mylène Jacquemart stellte auch klar: „Das ganze Ausmaß eines Naturereignisses wie im Lötschental ist nicht langfristig vorhersehbar.“
Zwei Frauen packen jetzt Behälter mit Unterlagen in den vorne liegenden Kofferraum ihres Elektroautos. „Der Berg meines Lebens“, ruft die Ältere im schweren Dialekt der Region und lacht. „Nun haben wir das Buch wieder.“ Feuerwehr, Armee und Helfer haben den Schmöker und andere Papiere aus einem Stausee herausgefischt. Der hatte sich nach dem gigantischen Gletschersturz gebildet. In dem See trieben auch Sessel, Fernseher, Besteck, Sägen und Kleider der Dorfbewohner. Der braune Brei mit den Habseligkeiten wurde quasi zum Symbol der Jahrhundert-Katastrophe, die über die Menschen hereingebrochen war. Fast fünf Monate nach dem Horror-Unglück kämpfen sich die traumatisierten Bergler jetzt langsam in ihr Leben zurück, schwankend zwischen Schmerz, Resignation und Zuversicht.
In der schweren Zeit richten sich die Menschen auch an ihrem Bürgermeister auf. Matthias Bellwald will sich mit dem tragischen Schicksal von Blatten nicht abfinden. „Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz“, hatte Bellwald nach dem Untergang Blattens gesagt. Es war ein Satz, der um die Welt ging.
Ortstermin mit dem Bürgermeister. Er kommt nach Wiler, ein anderes Nachbardorf. Bellwald nähert sich mit elastischen, raschen Schritten. Der Jurist und frühere Berufssoldat der Schweizer Armee, Oberst, hat Großes vor: Er will Blatten wiederaufbauen. Das Dorf, 1433 erstmals schriftlich erwähnt, soll in etwa dort entstehen, wo es früher stand. „Unser Fahrplan sieht vor, dass wir in vier Jahren das Dorf wieder teilweise bewohnen können“, sagt Bellwald und seine Augen blinzeln im herbstlichen Sonnenlicht. Bellwald macht die Vorhersage im selbstsicheren Tonfall des Offiziers, der gedrillt wurde, Hindernisse zu erkennen und zu überwinden. Um ihn herum liegen und stehen Abflussrohre, Bagger, Zementhaufen. Bauarbeiter sägen, bohren, hämmern. Die mächtigen Berge des Lötschentals rahmen die Szenerie ein: Der höchste von ihnen, das Bietschhorn (3934 Meter), strahlt erhaben in der Ferne. Bellwald geht ein paar Meter nach vorne zu der strikt abgesperrten Zone, in der sein Dorf begraben ist. „Die Hoffnung und die Sehnsucht müssen leben“, lautet seine Parole.
Kirche soll wieder aufgebaut werden
Zunächst geht es in kleinen Schritten zum neuen Blatten. Bellwald und seine Helfer haben die Wasserleitungen reparieren lassen, sie reichen nun bis an den Dorfrand. Alle vier Kraftwerke entlang der Lonza sind wieder ans Netz gegangen. Die Gemeinde will die wenigen intakten Gebäude in Blatten schon im Oktober mit Strom versorgen. „Die Bewohner können zurück in diese Gebäude, temporär, nicht dauerhaft“, skizziert Bellwald den Plan. „Auch können sie Material aus ihren Häusern nehmen, das sie vielleicht für den Winter brauchen, warme Kleider etwa.“
Über die nächsten Jahre will Bellwald die öffentliche Infrastruktur errichten: Gemeindekanzlei und Verwaltung, die Dorfstraße, Beleuchtung, Brunnen, Tiefgarage, ein Vereinshaus. Und wo kommt das Geld her? Die benötigten Schweizer Franken, bis zu 30 Millionen, sollen aus der Kantonskasse fließen.
Diejenigen Blattner, die an dem wagemutigen Projekt mitwirken, können ihre Häuser neu bauen. Selbst die Kirche wird wieder in den Walliser Himmel ragen und ihre Glocken sollen dann von der Auferstehung des jahrhundertealten Dorfes künden. Doch noch ist das alles Zukunftsmusik. Das weiß auch der energische Kommunalpolitiker. „Das, was Sie hier sehen, ist nicht das Dorf“, erläutert Bellwald und zeigt in Richtung Blatten. „Das ist der Ausläufer der 2,5 Kilometer langen Schutthalde.“
Immerhin hatten die Behörden an jenem 28. Mai rechtzeitig die Evakuierung der Blattner Bevölkerung abgeschlossen. Fast alle hatten somit Glück im Unglück. Nur Toni, der Schafhirt, befand sich während des Infernos mutmaßlich im Stall bei seinen Tieren. Der 64-Jährige war das einzige Todesopfer von Blatten. Im Nachbardorf Wiler harren nun die meisten der evakuierten Blattner aus, in Ferienwohnungen, bei Verwandten und Freunden. Einer von ihnen, ein Mann, vielleicht Mitte 40, steht an diesem Oktobertag unschlüssig auf der Dorfstraße in Wiler, kurz hinter der Käserei Lötschen. Auf die Frage, ob er aus Blatten stammt, reagiert er gereizt. „Ja. Aber ich will nicht darüber sprechen, schon gar nicht mit der Presse“, knurrt der Blattner. Zornig verschwindet er in einer Seitengasse und ruft noch: „Lassen Sie uns in Ruhe.“
Evakuiert wurden auch Esther Bellwald, ihr Ehemann und ihre beiden Buben, 9 und 12 Jahre alt. Esther Bellwald sitzt in dem Restaurant Sporting in Wiler. Das Sporting ist gut besucht. Ein Gemisch aus Schweizer Mundarten und Hochdeutsch dringt durch die urige Schankstube. Viele Menschen aus Blatten, die Haus und Hof verloren haben, treffen sich hier zum Erinnern. An einem Tisch lässt sich Bürgermeister Bellwald nieder und schmiedet Pläne mit einem Zuhörer. „Die Leute aus Blatten gehören zu unseren Stammgästen“, sagt die junge Kellnerin und jongliert ein Tablett an den Tischen vorbei.
Esther Bellwald betrieb bis zum unheilvollen Tag im Mai das traditionsreiche Hotel Nest- und Bietschhorn, mit dem Bürgermeister ist sie entfernt verwandt. „Der Bergsturz hat unser Haus komplett zerstört und tief unter Geröll begraben“, sagt sie. Die Endvierzigerin spricht vom „Lebenswerk mehrerer Generationen“. Bevor sie und ihre Familie ihr Hotel für immer verließen, schloss sie noch die Fenster. Sie dachte, sie würden schnell wiederkommen. Esther Bellwald zeigt zunächst keine Emotionen, doch dann vibriert ihre Stimme und sie bringt hervor: „Ich glaube noch immer, das ist unmöglich. Es ist wie in einem Science-Fiction-Film.“
Doch die frühere Hoteleigentümerin will die Prüfung meistern. Sie und Lukas Kalbermatten, ein anderer Hotelier aus Blatten, bauen eine neue, edle Herberge. Das Hotel soll noch vor Weihnachten seine Pforten öffnen. Es entsteht in „Holzmodulbauweise“, rund 100 Meter neben der Skistation Lauchernalp. „Wir können das Land in den ersten fünf Jahren umsonst nutzen“, berichtet Lukas Kalbermatten.
Video ging viral
Der Blick des bodenständigen Mannes gleitet an der Talstation in Wiler hoch. Dort oben, auf der Lauchernalp, soll bald also seine Zukunft von neuem beginnen. Kalbermatten verlor in Blatten sein Hotel Edelweiss. Das Video, das er von dem epochalen Sturz des Gletschers machte, ging im Netz viral. Der frühere und künftige Hotelier verabschiedet sich, gibt einen festen Händedruck und sagt im Weggehen: „Wir können das neue Hotel nach einiger Zeit abbauen und, wer weiß, vielleicht in dem neuen Blatten noch einmal hochziehen.“
Wird ein blühendes Neu-Blatten jemals entstehen? Das dürfte auch vom Verhältnis der Menschen zur Natur abhängen. Nur wenn die Blattner mit der riskanten Umwelt im Reinen sind, werden sie auf ihre Scholle zurückkehren. So sehen das viele im Lötschental. „Wir haben schon immer mit dieser Natur gelebt, mit diesen Naturgewalten“, erzählt Bürgermeister Bellwald. „Unsere Einstellung hat sich nicht geändert. Wir lieben die Berge noch immer.“ Besonders innig fühlt sich Bellwald dem Bietschhorn verbunden. Als 17-Jähriger erklomm er den Riesen das erste Mal, mit seinem Vater. Der alte Bellwald starb vor zwei Jahren. „Leider ist nun der Friedhof in Blatten, auf dem mein Vater liegt, vom Schutt bedeckt“, sagt der junge Bellwald. „Ich kann nicht mehr an sein Grab gehen.“