Zehntausende schauen sich das Jahrhundert-Ereignis an

  • Zahlreiche Schaulustige versammelten sich in Gundremmingen und auf den umliegenden Feldwegen. Sven Hoppe
  • AKW-Mitarbeiter sitzen zusammen, um sich die Sprengung anzusehen. Ein schöner Tag ist es für sie nicht, sagen sie. Foto: Salome Hanselmann
  • Eine Gruppe aus Burgau hat Proviant mitgebracht. Heiße Würstchen schmecken besonders gut bei Wind und Regen. Foto: Julia Horn

Atomkraftwerk Trotz Musik, Glühweinständen und Wurstverkauf: Für viele Anwohner aus Gundremmingen ist der Tag der Sprengung traurig.

Fast fühlt man sich auf den Feldern und Wiesen rund um Gundremmingen am Samstag, 25. Oktober, als sei man auf einem Festival: Da stehen Menschen mit Bierflaschen in der Hand, aus Boxen dröhnt Musik, es gibt Glühwein, Burger und Würstchen. Doch wenn man mit den Leuten ins Gespräch kommt, merkt man schnell, dass die Stimmung weniger gut ist, als es auf den ersten Blick scheint. „Es ist ein trauriger Tag“, sagen viele. Die beiden Kühltürme des ehemaligen AKW Gundremmingen, das Wahrzeichen des Ortes, werden schon bald der Vergangenheit angehören.

Unter den negativ gestimmten Anwohnern ist auch Erika Schuster. Sie steht am Samstagmorgen mit ihrer Familie im Vorgarten ihres Elternhauses – mit direktem Blick auf die Kühltürme. Am Gartentor hängen Preislisten: Die Schusters verkaufen Wurst in der Semmel und Getränke. Das Kraftwerk bedeutet Schuster viel. „Ich finde es sehr schade, dass es abgeschaltet wurde und dass jetzt die Türme gesprengt werden.“ Ihr Mann habe schon dort gearbeitet, jetzt ihr Sohn. „Und ich selbst bin mit dem Kraftwerk aufgewachsen.“

Plätze reserviert

Noch haben die Schusters keine Kunden, gegen 9 Uhr ist wenig los in Gundremmingen. Einige Autos parken zwar schon in den extra eingerichteten Einbahnstraßen, es läuft aber alles geordnet und ruhig ab. Erste Zuschauerinnen und Zuschauer stellen ihre Campingstühle auf den Feldwegen ab, reservieren gute Plätze. Auch eine Gruppe aus Illertissen und Senden ist dabei – ausgerüstet mit Kaffee, Wasser und Brezeln. „Wir sind sehr glücklich, dass wir so nah an den Kühltürmen sind und die auch so schön sehen können“, sagt Katharina Baumann. „Es ist schon interessant, wie so große Gebäudestrukturen gesprengt werden.“

Ein paar Meter entfernt, noch näher am Ort des Geschehens, sitzen ein paar Männer in einem Pavillon zusammen. Sie alle arbeiten im Kraftwerk, erzählen sie. Ein schöner Tag sei es für sie nicht. Einer der Arbeiter hat freigenommen, ein anderer muss zur 14-Uhr-Schicht nach der Sprengung. Davor wird noch gegrillt.

Gut versorgt sind auch die Menschen, die an diesem Vormittag bei Sabrina Oberlander und ihrer Schwester vorbeischauen. Auf deren Hof steht ein Burger-Foodtruck – extra angemietet für den Tag der Sprengung. „Die Gäste hätten sich sowieso eingeladen“, erzählt Oberlander. Die Familie ihrer Schwester wohnt nämlich am Kreuzberg, man hat einen guten Blick auf das Geschehen. Auch wenn hier alles nach Party aussieht – für die Familie ist es kein einfacher Tag. „Wir sind sehr dankbar, dass wir das Kraftwerk hatten“, sagt Oberlander. Es habe dem Ort und der Region viele Möglichkeiten eröffnet. „Unsere Eltern haben hier gearbeitet, jahrzehntelang. Wir sind schon sehr traurig.“

Inzwischen ist mehr los in Gundremmingen, viele Menschen laufen den Kreuzbergweg hinauf. Einige haben Kameras aufgebaut, um die Sprengung festzuhalten, andere Stühle oder Pavillons aufgestellt. Eine Gruppe junger Männer hat Glühwein mitgebracht, auch sie haben im AKW gearbeitet oder arbeiten noch dort. „Zwei Stühle haben wir für Söder und seine Begleitung reserviert“, erzählt einer der Männer und lacht.

Den Ministerpräsidenten sichtet man an diesem Vormittag nicht mehr, dafür immer mehr Schaulustige. Gegen 11 Uhr sind viele gute Plätze weg. Christian Holzbock aus Gundremmingen ist mit Kamera, Stativ und Fernglas ausgerüstet. Die Sprengung will er sich nicht entgehen lassen. Die Türme seien schließlich regional von Bedeutung. „Man ist damit aufgewachsen. Aus jeder Richtung zeigen sie: Wir sind zuhause.“

Ähnlich sieht das auch eine Gruppe aus Burgau, die einen Biertisch aufgebaut hat. Darauf ein riesiger Topf mit Würstchen, Bier und Brezeln. „Wir finden ja gar nicht mehr heim, wenn die Türme weg sind“, scherzt einer der Burgauer. Dann werden die Töne ernster: „Ein Teil der Geschichte ist dann weg.“

Tränen in den Augen

Inzwischen ist es kurz vor 12 Uhr, Regen hat eingesetzt. Die Menschen setzen ihre Kapuzen auf und zücken die Handys. In Gundremmingen, in den angrenzenden Gemeinden und an den Aussichtspunkten der Region warten alle gespannt auf den einen Moment. Und dann, um 12 Uhr, ist es soweit: Mit einem lauten Dröhnen fällt der erste Turm in sich zusammen, kurz darauf der zweite. Innerhalb von Sekunden ist von den Stahlbeton-Riesen nichts mehr zu sehen. Nur eine große Staubwolke hängt noch in der Luft. Lautes Johlen und Rufen brandet auf, die Menschen klatschen.

Dann wollen alle so schnell wie möglich nach Hause, raus aus der Nässe. Zielstrebig laufen die meisten in Richtung Parkplätze. Autos, Radfahrer und Fußgänger verstopfen die Straßen. Nur Louis Rau aus Mindelaltheim hat die Ruhe weg. Er ist mit einem Bollerwagen anderthalb Stunden zum Ort des Geschehens gelaufen, um das Verkehrschaos zu meiden. Jetzt geht es zu Fuß zurück. Die Sprengung selbst fand er gar nicht so spektakulär: „Hart langweilig im Endeffekt, es ist ja nicht viel passiert.“ Gelohnt habe es sich trotzdem.

Alles andere als langweilig fand es Lisa Pohl aus Röfingen. „Für mich gehören die Türme seit meiner Kindheit dazu. Deswegen war es mir ganz arg wichtig, dass ich bei der Sprengung dabei sein kann. Dass ein Bauwerk innerhalb von Sekunden weg ist, das ist sehr emotional. Da sind mir auch die Tränen gekommen.“

NÄCHSTER ARTIKEL