Wunderwerke vor der Haustür
Kunst Michelle Gutjahr fotografiert seit zehn Jahren, was sie liebt: die Natur. Rund um Illertissen hat sie schon viele besondere Tiere entdeckt und abgelichtet. Gefragt sind Geduld, Technikwissen – und Respekt. Von Julia Horn
Das Eichhörnchen trägt sein Baby in den Pfoten, winzig und nackt – fast hält man das kleine Geschöpf für eine große Nuss. Seine Mutter geht von Gefahr aus und bringt es in einen sicheren Kobel. Ein seltener Anblick, im August festgehalten in Illertissen. Nicht nur dort löste das Foto Entzücken aus. Mehrere Lokalzeitungen druckten es ab, das renommierte Wissensmagazin „Geo“ teilte es auf Instagram.
Hinter dem „bewegenden Leserfoto“, wie Geo schreibt, steckt Michelle Gutjahr. Ein paar Monate, nachdem sie die Eichhörnchen fotografiert hat, sitzt die 52-Jährige an ihrem Esstisch in Illertissen. Neben ihr die Fotografie eines bunt gefiederten Eisvogels, vor ihr eine mit Marienkäfer bedruckte Kaffeetasse. Ebenfalls selbst gemachte – und ausgezeichnete – Bilder von Gutjahr. Seit zehn Jahren fotografiert sie das, was sie liebt: die Natur.
Seltene Arten in der Region
Seit sie 2017 mit ihrer Familie von Nürtingen nach Illertissen gezogen ist, ist sie dafür vor allem in der Region um Ulm unterwegs. „Hier gibt es so viel, was man entdecken kann“, sagt sie. Das liege auch an den vielen Grundwasserseen und Niedermoorgebieten – Lebensräume für Pflanzen und Tiere. „Es ist total wissenswert, was es vor unserer Haustür alles gibt. Die meisten Menschen kennen diese Arten gar nicht.“ Das gut getarnte Hermelin etwa, das im Sommer braun, im Winter weiß ist. Oder den in Deutschland seltenen Goldenen Scheckenfalter, den die Naturfotografin im Obenhausener Ried vor die Linse bekommen hat.
Schmetterlinge sind ebenso wie Vögel ihr Spezialgebiet. Vor Sonnenaufgang zieht Gutjahr los, um die Insekten zu fotografieren. Dann befinden sie sich noch in der Nachtstarre und die Fotografin kann in Ruhe ihre Kamera aufbauen. Wenn die ersten Sonnenstrahlen hervorkommen und die Temperaturen steigen, öffnen die Schmetterlinge ihre Flügel – und Gutjahr hält den Moment fest, bevor die Tiere schließlich in den rötlich gefärbten Himmel davonflattern.
Zwei Kameras dabei
Eine schnelle Reaktion ist essenziell für Naturfotografen, sagt die 52-Jährige. Ebenso wie Geduld und ein bisschen Glück. Drei Stunden hat die Illertisserin einmal auf das Erscheinen eines Kuckucks gewartet. „Ich wusste, dass er diesen Ast gerne anfliegt.“ Schlussendlich mit Erfolg, sie konnte ihn fotografisch einfangen. Was fühlt sie in Momenten wie diesen? „Aufregung. Und Spannung, ob das Foto scharf geworden ist.“ Von hunderten Aufnahmen sind meist nur zwei, drei gelungen. Ebenfalls wichtig: „Man muss seine Kamera beherrschen.“ Gutjahr nimmt auf ihre Steifzüge durch die Natur ein Makro- und ein Teleobjektiv mit. Letzteres bringt zusammen mit der Kamera bis zu fünf Kilo auf die Waage, sagt die zweifache Mutter. Um einen Rotfußfalken abzulichten, hat sie es auch schonmal zwei Stunden um den Hals getragen. Das Makroobjektiv dagegen ist für die Details gedacht. Härchen, Flügelmaserungen, Wasserperlen – alles ist auf den Aufnahmen sichtbar. „Es ist faszinierend, weil man Dinge zeigen kann, die man mit bloßem Auge nicht sieht“, findet die Illertisserin.
Highlights hat sie in zehn Jahren Naturfotografie viele erlebt. Von Haubentauchern, die vor leuchtend rotem Morgenhimmel einen Balztanz aufführten, bis hin zu kleinen Schleiereulen, die sie mehrmals besuchte und groß werden sah. Manchmal recherchiert sie lange, um herauszufinden, wo ein bestimmtes Lebewesen zu entdecken ist. Die Orte verrät sie allerdings nicht, um die Tiere vor neugierigen und rücksichtslosen Menschen zu schützen. „Nicht jeder Naturfotograf ist naturschutzinteressiert.“
Das Erlebnis zählt
Für Gutjahr gilt: Respekt vor der Natur und ihren Bewohnern ist die oberste Regel. Das heißt, Wege in Naturschutzgebieten nicht verlassen, Abstand halten und Tiere im Zweifelsfall in Ruhe lassen, gerade wenn sie Nachwuchs haben. Seit etwa fünf Jahren ist die 52-Jährige neben ihrem Hauptjob in einem Illertisser Familienbetrieb beim Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV) aktiv, kümmert sich dort unter anderem um den Kiebitz-Schutz. Sogenannte Hides zu benutzen, also von bestimmten Anbietern gebaute und bereitgestellte Verstecke, um möglichst gute Fotos zu machen, kommt für sie nicht infrage. „Für mich zählt das Erlebnis und dass ich die Tiere selbst gesehen habe.“ Ganz oben auf ihrer Wunschliste: Fuchswelpen, Dachse und eine Gottesanbeterin.