Im Ernstfall ohne Überblick

  • Soldaten des Panzergrenadierbataillon 401 nehmen an der Gefechtsausbildung teil. Axel Heimken/dpa

Bundeswehr Bevor das Wehrpflichtgesetz in den Bundestag kommt, wird es zerpflückt. Unter anderem von der SPD-Fraktion und Verteidigungsminister Pistorius.

So etwas habe er in 30 Jahren Bundestag noch nicht erlebt, behauptet Norbert Röttgen, Vizefraktionschef der Union im Bundestag, und wirft Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) „destruktives Verhalten“ vor, weil er das Gesetzesverfahren zum Wehrdienst „torpediert“ und die eigene Fraktion ins Chaos stürzt.

Wie geht es weiter mit der Wehrpflicht? Genauso wie geplant – beteuert zumindest die Koalition. „Es ist ja gar nichts passiert“, beschwichtigte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Mittwochmorgen. Tatsächlich soll die erste Lesung seines Gesetzentwurfs zum neuen Wehrdienst weiterhin am Donnerstag stattfinden. Ziel bleibe, auch das bekräftigte Pistorius, „dass das Gesetz zum ersten Januar in Kraft tritt“. Was dann aber genau umgesetzt wird, ist offen. Gegen das Losverfahren bei der Musterung, wie zuletzt von den Fraktions-Unterhändlern von Union und SPD vereinbart, hat der Minister jedenfalls weiterhin „erhebliche Bedenken“. Er fordert: Eine „flächendeckende Musterung“ spätestens ab 2027, die sein Gesetzentwurf vorsieht, im Fraktionskompromiss aber nicht enthalten ist. Nach den Kompromiss-Plänen soll auch über die Musterung per Los entschieden werden. Das sorge aber nicht für den nötigen Überblick im Ernstfall, „wer fähig wäre, eingezogen zu werden“, erläuterte ein Sprecher von Pistorius‘ Ministerium.

Der SPD-Minister kritisiert außerdem erhebliche Zeitverluste durch eine „Musterungsschleife“: Wenn nämlich die Gelosten zunächst nicht verpflichtet, sondern überzeugt werden sollen. Minister und Parlamentarier setzen nun auf Einigungen im parlamentarischen Verfahren.

Was heißt das jetzt für Pistorius? Der Beliebtheitsrekordminister Pistorius muss sich gegen den Vorwurf wehren, seine Parteikollegin und ehemalige Staatssekretärin Siemtje Möller zu Tränen getrieben zu haben. Möller war als Fraktionsvize Teil der Verhandlergruppe, scheiterte aber wie ihr Kollege Falko Droßmann am Widerspruch des Ministers – und der Fraktion. „Ich habe keine Tränen gesehen“, so Pistorius‘ lakonischer Kommentar zu den Vorhaltungen.

Dass ihn selbst die ganze Sache mächtig ärgert, war dem Minister in den vergangenen zwei Tagen aber anzusehen. Kein Wunder, kämpft er doch schon seit eineinhalb Jahren für seine Idee des Wehrdienstes. Auf dem Spiel stehen inzwischen auch seine Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft. Hinzu kommt, dass das Thema nicht seine einzige Baustelle ist: Pistorius muss sich derzeit beispielsweise auch mal wieder mit schlechten Nachrichten beim Dauerthema digitale Funkausstattung herumschlagen.

Ist es mit dem Koalitionsfrieden schon wieder vorbei? Es war so viel die Rede vom guten „Geist von Würzburg“, nachdem sich die Fraktionsspitzen von Union und SPD dort zur Klausur getroffen hatten. Die Harmoniesuche war damals dringend notwendig, weil es nach dem Eklat um die geplatzte Verfassungsrichterwahl an Vertrauen fehlte. Das Ringen um die Wehrpflicht muss keinesfalls zwingend zu einem solchen Drama werden. Doch diesmal ist es die Union, die Anlass hat, diese Frage zu stellen: Hat SPD-Fraktionschef Matthias Miersch seinen Laden eigentlich im Griff? Und: Ist in der SPD der Austausch zwischen den von der Partei geführten Ministerien und der Fraktion gut genug?

Das ist eine unangenehme Lage, in der einige Entscheidungen anstehen, hinter denen sich die gesamte Koalition erst einmal vereinen muss. Wackelt die SPD beim Bürgergeld oder die CDU beim Rentenpaket, könnte Schwarz-Rot in eine tiefe Krise stürzen. Das Potenzial zur weiteren Selbstdemontage in der Koalition ist da. Aber es muss nicht so kommen.

Was ist los in der SPD-Fraktion? Es hat tatsächlich richtig gekracht in der sozialdemokratischen Fraktionssitzung am Dienstag. Verteidigungsminister Boris Pistorius soll regelrecht getobt haben. „Wie soll ich als Verteidigungsminister mit einer Einigung umgehen, hinter der ich mich noch nicht versammeln kann“. Das Bild des einzelnen Ministers, der sich versammelt, mag schief sein, die Wut war echt. Die bekam vor allem Siemtje Möller ab. Der Verteidigungsexpertin und Unterhändlerin warf Pistorius vor, dass sie von seinen Vorbehalten gegen ein Losverfahren gewusst habe. Aber es herrsche ein „gutes Arbeitsklima“ in der Fraktion und, „dass es mal rumpelt, ist völlig normal“. Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese stößt in das gleiche Horn. Siemtje Möller habe „ein dickes Fell“. Das kann man getrost als Bestätigung dafür werten, dass tatsächlich die Fetzen geflogen sind. Als Zeichen, wie in der SPD Konflikte beigelegt werden, sieht Wiese die Tatsache, dass in der Bundestagsdebatte zum Thema sowohl Pistorius als auch Möller sprechen werden.

NÄCHSTER ARTIKEL