Aus dem Fenster gestoßen und dann vergewaltigt?
Reutlingen Unter anderem wegen versuchten Totschlags und Vergewaltigung muss sich ein 30-Jähriger seit Montag vor dem Landgericht in Tübingen verantworten.
Der schmächtige Angeklagte, der in Handschellen und Fußfesseln vorgeführt wurde, soll sich am 6. November des vergangenen Jahres etwa ab Mittag als Besucher in einer Flüchtlingsunterkunft in Reutlingen aufgehalten haben. Dort soll er im Zimmer eines Bewohners gemeinsam mit diesem zunächst Haschisch und Bier, später auch Wodka konsumiert haben. Nach 18 Uhr soll es dann zwischen den beiden alkoholisierten Männern zum Streit gekommen sein. Dabei habe, so Staatsanwalt Florian Fauser, der 30-Jährige zunächst einen Stuhl gegen das Fenster geworfen. Als dieses nicht zu Bruch ging, habe er es geöffnet und danach den vier Jahre jüngeren Mann rückwärts aus dem Fenster sieben Meter in die Tiefe gestoßen: „Er wollte seinen Tod.“
Das Opfer erlitt bei dem Sturz unter anderem einen Riss in der Leber und zahlreiche Frakturen. Der 26-Jährige, so Fauser, habe damals in akuter Lebensgefahr geschwebt und sei nur aufgrund einer Notoperation im Reutlinger Klinikum am Steinenberg gerettet worden. Obwohl der Mann schwerstverletzt war, ließ der Angeklagte nicht von ihm ab. Er lief hinter das Gebäude, wo er dem Verletzten erst die Hose herunterzog und ihn filmte. Anschließend habe er den lebensgefährlich verletzten Mann vergewaltigt. Als ein Zeuge hinzukam, der den Schwerverletzten ins Haus begleitete, sei der mutmaßliche Täter geflohen. Er konnte wenige Tage später bei seinem Bruder in Hamburg festgenommen werden.
Ihr Mandant werde keine Angaben machen, weder zur Person, noch zu den Vorwürfen, erklärte Rechtsanwältin Maria Tunc. Dass die Prozessbeteiligten gleichwohl etwas über den Angeklagten erfuhren, lag an einer Gefängnisstrafe, die das Reutlinger Amtsgericht am 13. Januar dieses Jahres wegen gewerbsmäßigem Handel mit Cannabis und einer Körperverletzung gegen ihn verhängt hatte. Dieses Prozessprotokoll wurde verlesen. Demnach ist der Angeklagte am 15. Juli 1995 in der Provinz Kapisa nordöstlich von Kabul in Afghanistan geboren. Vor einigen Jahren kam er als Asylbewerber nach Deutschland, seither lebt er in Reutlingen, wo er sich seinen Lebensunterhalt und den Eigenbedarf mit dem Dealen kleiner Drogenmengen verdient haben soll.
Geld mit Drogen verdient
Bei einem dieser Drogengeschäfte war er in Streit mit dem Käufer geraten. Dabei hatte er ein Messer gezogen und dem Mann mehrere oberflächliche Stiche zugefügt. Dass sein Opfer damals nur leicht verletzt wurde, lag auch daran, dass es dicke Winterkleidung trug. Weil der Angeklagte davor noch keinerlei Vorstrafen hatte, wurde die Strafe – ein Jahr und sechs Monate – zur Bewährung ausgesetzt.
Zwei Monate bevor es zu dem versuchten Totschlag in der Reutlinger Flüchtlingsunterkunft kam, hatte es schon einmal einen vergleichsweise harmlosen Vorfall gegeben, den das Landgericht nun zusammen mit dem versuchten Totschlag verhandelt. Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte lautet hier die Anklage. Demnach hatte der Angeklagte am 1. September 2024 gemeinsam mit einem Freund eine Bekannte in einer psychiatrischen Einrichtung in Pfullingen besucht. Morgens gegen halb sieben gerieten die beiden alkoholisierten Männer dann vor dem Haus in Streit, worauf Nachbarn wegen Lärmbelästigung die Polizei riefen. Unter dem Beisein zweier Streifenwagenbesatzungen soll der Angeklagte dann seinem Kumpel eine Ohrfeige gegeben haben. Die beiden Männer wurden daraufhin von den Polizeibeamten getrennt und mit Handschließen in die Streifenwagen verfrachtet.
Zu diesem Vorfall wurden am Montag die Zeugen vernommen. Als erstes wurde der Mann gehört, der mit dem Angeklagten die Frau in Pfullingen besucht und später die Ohrfeige bekommen hatte. Er gab sich wortkarg. „Wir waren beide besoffen.“ Eine Flasche Wodka habe man zusammen geleert und jeder drei Bier. Er könne sich nicht daran erinnern, dass er von seinem Kumpel geschlagen worden sei. Daraufhin machte ihn der Vorsitzende Richter Armin Ernst darauf aufmerksam, dass die Polizeibeamten den Schlag mit ihrer Bodycam gefilmt hätten. „Eine Falschaussage kann Ihnen eine Anzeige einbringen.“
Daraufhin setzte bei dem 27-Jährigen prompt die Erinnerung wieder ein: „Soll ich ehrlich sein? Es gab eine Ohrfeige.“ Er blieb aber dabei, dass er nichts gespürt habe. Er wolle auch keine Anzeige erstatte, nur seine Ruhe. Wie sein Verhältnis zum Angeklagten sei, wollte die Verteidigerin wissen. Er sei halt ein Kumpel, den er in der Stadt kennengelernt habe: „Er ist ein sehr netter Junge, wenn er keinen Alkohol trinkt.“ Als er aus dem Zeugenstand entlassen wurde, war er sichtlich erleichtert: „Bin ich jetzt wirklich fertig und muss nicht wiederkommen?“
Die Polizeibeamten erinnerten sich übereinstimmend, dass beide Männer stark alkoholisiert und wenig kooperativ waren. Vor allem der Angeklagte habe „völlig neben sich gestanden“. Jedenfalls wehrte sich der 30-Jährige heftig gegen die Festsetzung, versuchte eine Polizeibeamtin zu treten und zu beißen. Im Laufe der Auseinandersetzung, habe sich dann der jüngere Mann mit dem Angeklagten solidarisiert, obwohl dieser ihm zuvor eine Ohrfeige gegeben habe.
Mit Spannung wird der zweite Prozesstag am Mittwoch erwartet. Ab 9 Uhr werden dann die Zeugen zu den ungleich schwerwiegenderen Vorwürfen, dem versuchten Totschlag und der Vergewaltigung, gehört.