Beatmungsgerät abgestellt?

  • Einer Pflegerin wird vorgeworfen, das Beatmungsgerät einer 77-Jährigen ausgestellt zu haben (Symbolbild). Foto: Oliver Berg/dpa-tmn/dpa

Gericht Wegen fahrlässiger Tötung muss sich eine 54-Jährige verantworten. Ihr wird vorgeworfen, am Erstickungstod einer ALS-Patientin schuld zu sein.

Der Fall ist ebenso tragisch wie unfassbar. Am Abend des 23. Aprils war eine 77-Jährige noch ganz normal von ihren häuslichen Pflegekräften zu Bett gebracht worden, am folgenden Morgen war sie tot. Ihre 54-jährige Pflegerin, die in besagter Nacht Dienst hatte, steht nun vor dem Amtsgericht Ulm – und schweigt, sieht die meiste Zeit starr zu Boden. Die Frau sieht verzweifelt aus, zwischendurch wischt sie sich Tränen aus den Augen. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod der 77-Jährigen verantwortlich zu sein, möglicherweise das Beatmungsgerät ausgestellt zu haben, auf das die Seniorin angewiesen war.

Die 77-Jährige litt an der unheilbaren, Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralskelrose, kurz ALS. „Eine schwere Krankheit“, wie die als Zeugin vorgeladene Hausärztin der Frau beschreibt. Die Muskeln versagen dabei nach und nach ihren Dienst, die Betroffenen haben irgendwann auch Schwierigkeiten beim Schlucken und Atmen. Ernährt werden musste die Seniorin bereits über eine Sonde. Dennoch sei ihre Patientin lebensfroh gewesen, habe ausdrücklich keine Patientenverfügung gewollt.

Was die Tochter der 77-Jährigen bestätigt. „Meine Mama wollte leben“, sagt sie vor Gericht. Auch die Tochter ist sichtlich mitgenommen, muss ihre Aussage kurz unterbrechen, um sich wieder zu fassen. Ihre Mutter habe im oberen Geschoss ihres Hauses im Langenauer Stadtteil Hörvelsingen gewohnt, sie mit ihrem Mann unten – weshalb sie immer auch ein Auge auf die Mutter haben konnte und genau wusste, wie es ihr ging.

„In letzter Zeit ist es wieder bergauf gegangen“, beschreibt sie die Wochen vor dem Tod der älteren Frau. Sie habe neuen Lebensmut gefasst, trotz des Beatmungsgeräts, auf das sie nach einem Luftröhrenschnitt im Oktober vergangenen Jahres angewiesen war. „Sie konnte sogar wieder selbst mit dem Rollstuhl herumfahren und wir konnten schriftlich kommunizieren.“ Sprechen konnte ihre Mutter nach dem Eingriff zwar nicht mehr, geistig sei sie aber voll dagewesen.

Zu dem Aufwärtstrend hatte letztlich auch die jetzt vor Gericht Angeklagte selbst beigetragen. Die gelernte Krankenschwester hatte ihrer Patientin in den Wochen vor deren Tod zeigen wollen, dass sie immer noch selbst atmen konnte, beschreibt es die Tochter vor Gericht. „Meine Mutter hatte panische Angst davor, zu ersticken“, sagt sie. Um ihr die zu nehmen, habe die Pflegerin eines Tages das mobile Beatmungsgerät ausgestellt, das die Seniorin tagsüber benutzte, wenn sie in ihrem Rollstuhl saß. Zwar ohne das vorher mit ihrer Teamleitung oder den Angehörigen abzusprechen, aber mit Wissen der Patientin.

„Ich ging hoch, um nach meiner Mutter zu schauen und merkte, dass sie nicht am Beatmungsgerät war“, berichtet die Tochter. „Aber meine Mutter gab mir das Daumen-hoch-Zeichen, also wusste ich, dass das für sie in Ordnung war.“ Nach etwa einer Stunde – genau wisse sie es nicht, weil sie nicht von Anfang an dabei war – habe die jetzt Angeklagte ihre Mutter wieder mit dem Beatmungsgerät verbunden. Zur Sicherheit, nicht weil es medizinische Probleme gab.

Alle hätten sich gefreut –tatsächlich sorgt die Tatsache, dass die ALS-Kranke derart lange selbstständig atmen konnte, auch unter den anwesenden medizinischen Experten für Erstaunen. Allerdings sei man sich auch einig gewesen, auf weitere Versuche zu verzichten, bis das Okay der zuständigen Ärzte vom Bundeswehrkrankenhaus in Ulm kommt, sagt die stellvertretende Leiterin des Pflegeteams vor Gericht. Auch die Angeklagte habe das so hingenommen.

Was genau nun in der Todesnacht passiert ist, stellt das Gericht vor Rätsel. Klar ist, dass das Beatmungsgerät zwischen 21.12 Uhr des 23. Aprils und 4.15 Uhr des 24. Aprils auf Standby gestellt war, also die 77-Jährige nicht mit Sauerstoff versorgt hatte. Das ergaben die Daten es Gerätespeichers, der von einem Gutachter komplett ausgelesen worden war. Hinweise darauf, dass ein Defekt am Gerät vorlag, habe er nicht feststellen können.

Komplexe Handgriffe

Die Polizei verdächtigt daher die 54-jährige Pflegerin, das Gerät abgestellt zu haben – weshalb sich diese bereits seit April in Untersuchungshaft befindet. Dass die 77-Jährige, ob absichtlich oder versehentlich, selbst die entsprechenden Tasten bedient hat, sei ausgeschlossen wegen der komplexen Handgriffe, die dazu nötig sind. Wovon sich Richterin Naila Widmaier im Gerichtssaal, wo das Gerät vorgeführt wurde, im Selbsttest überzeugte. Dennoch gehe man nicht davon aus, dass die Angeklagte in böser Absicht gehandelt hat, so Widmaier. „Sie wollte wohl nur das Beste für die Patientin.“

Auch die Tochter der 77-Jährigen beschreibt die vorherige Arbeit der Angeklagten als einwandfrei –so wie die des gesamten Pflegeteams; zwei Pflegerinnen hatten sich in Tag- und Nachtschichten abgewechselt. „Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis“, sagt die Tochter, die auch als Nebenklägerin auftritt. „Umso unfassbarer ist für mich, was passiert ist.“

Meine Mama wollte leben. Tochter der 77-Jährigen

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