Entwöhnung ist Stress

  • Extraportion Nähe: Auf dem Talhof übernehmen Kühe auch die Funktion einer Amme für andere Kälber. Hier im Bild Kuh Persia mit zwei Kälbern. Isabella Hafner
  • Kerstin Barth forscht zur Kälberaufzucht. Kerstin Barth

Es ist ein schmaler Grat zwischen Tierwohl und Rentabilität, den Landwirte mit muttergebundener Kälberaufzucht beschreiten. Das sagt die Expertin Kerstin Barth.

Wie bei Menschen auch, ist der Abnabelungsprozess vom Elternhaus bei Kühen eine langwierige und komplexe Angelegenheit. Kleine Veränderungen in der Haltung wirken sich auf die Gesundheit der Tiere, aber auch auf die Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe aus. Die Expertin für Ökologischen Landbau Kerstin Barth kennt die Vor- und Nachteile der kuhgebundenen Kälberaufzucht. Im Interview berichtet sie über die Ergebnisse ihrer Forschung.

Frau Barth, welche Vorteile hat es, wenn man die Kälber nicht gleich nach der Geburt von der Mutter trennt, sondern sie mehrere Wochen oder sogar Monate bei ihnen lässt?

Kerstin Barth: Die Kälber entwickeln sich sozial und körperlich sehr gut – wenn das Milchangebot stimmt! Bei der Aufzucht an der Kuh ist das nicht zwangsläufig ideal im Vergleich zum Tränken mit dem Eimer. Man kann ja nicht genau prüfen, wie viel das Kalb getrunken hat. Grundsätzlich ist es jedoch positiv, den Kontakt zwischen Kalb und Mutter herzustellen – auch, weil sie ihr mütterliches Verhalten ausleben kann.

Doch auch, wenn man Mutter und Kalb erstmal zusammen lässt, trennen wir sie früher und setzen sie früher von der Milch ab, als es unter natürlichen Bedingungen der Fall wäre. Wir wollen ja auch die Milch der Kühe nutzen. Unter natürlichen Bedingungen würden die Kälber frühestens nach sechs bis acht Monaten von der Milch entwöhnt. Diese Entwöhnung bedeutet Stress für Mutter und Kalb. Momentan laufen bei uns Untersuchungen, wie man das schonend gestalten kann: Wie lässt sich am besten vermeiden, dass man dem Kalb gleichzeitig den Sozialpartner, also die Mutter, entzieht und von der Milch absetzt? Wie führt man es langsam an Festfuttermittel heran?

Übrigens: Auch in der natürlichen Haltung bilden sich nach kurzer Zeit sogenannte Kindergärten bei Kälbern heraus, in denen sie viel Zeit mit anderen Kälbern ohne die Mutter verbringen.

Viele Landwirte scheuen sich davor, Mutter und Kalb länger beisammen zu lassen, weil sie fürchten, ihren Hof umbauen zu müssen …

Es kommt immer auf den Betrieb an, ob sich so eine Haltung anbietet. Wenn ich keine Möglichkeit habe, die Kälber zu den Kühen zu lassen, weil ich einen Spaltenboden habe, dann bräuchte ich einen extra Begegnungsraum oder Stallteil, wo sie sich gemeinsam aufhalten können. Anders ist es, wenn ich meinen Milchviehstall weiter nutzen kann, aber von der Auslastung her einfach mit weniger Kühen. Oder wenn die Kälber nur zu bestimmten Zeiten zu ihren Müttern dürfen und dann wieder in ihre getrennten Bereiche gehen. Es gibt sehr viele Systeme.

Hat man sich das Ganze in mancher Hinsicht idealer vorgestellt?

Bis jetzt haben wir wenige Hinweise darauf, dass es ein großes Risiko dabei gibt – das hat man früher befürchtet. Etwa, dass die Mütter Krankheiten auf ihre Kälber übertragen. Das kommt zwar manchmal vor, wenn bestimmte Erreger vorhanden sind. Fehlen diese, gibt es das Problem auch nicht. Es hängt immer sehr stark vom Betrieb ab, ob es Risiken in bestimmten Bereichen gibt.

Eine Herausforderung für die Landwirte ist sicherlich, dass sie sich umstellen müssen von der Beurteilung der aufgenommenen Milchmenge durch einen Tränkeautomaten oder den Blick in den Tränkeeimer. Da sehe ich ja sofort: Hat das Kalb genug getrunken? Ich brauche dagegen einen geschulten Blick, um zu sehen, ob die Kälber durch das Säugen an der Kuh genug Milch aufgenommen haben. Aber es gibt eben auch Landwirtinnen und Landwirte die sagen, es macht mir viel mehr Spaß, weil ich wieder mehr auf die Tiere schaue, als Eimer zu waschen.

Genau das war es auch, was mir eine der Pionierinnen der kuhgebundenen Kälberaufzucht, Mechthild Knösel, erzählt hat. Sie sei einen Großteil des Tages damit beschäftigt, ihre Tiere zu beobachten. Sie kenne die Tiere in- und auswendig, wisse bei jeder Regung, was dahintersteckt. Da sehe ich eine Landwirtin vor mir, die ausschaut, als würde sie einfach da sitzen und nix machen. Aber eigentlich macht sie ja sehr viel: Sie guckt und entscheidet, wie viel sie die Tiere sich selbst überlässt und wann sie eingreifen muss.

Ja, ein Lernprozess, den dabei jede Landwirtin und jeder Landwirt durchmacht. Ein Training, das in den Lehrplänen oft so gar nicht mehr vermittelt wird. Wir wissen heute viel darüber, wie das Futter zusammen gesetzt sein muss, aber wenig über die Interaktion zwischen Mutter und Kalb. Und man muss auch ein Zutrauen entwickeln, nicht ständig alles kontrollieren zu können. Wobei man eben auf der anderen Seite auch genau hinschauen muss. Wenn ich größere Tierbestände habe, kann ich aber auch technische Hilfsmittel dazu nutzen. Das ist eine Chance für die Zukunft. So könnte es für interessierte Betriebe einfacher werden. Man kann etwa Sensoren nutzen, zum Überprüfen der Aktivität der Kälber oder ihres Wiederkauverhaltens.

Sie sagen, das Sozialverhalten der Kälber sei besser durch die gemeinsame „Elternzeit“. Warum?

Die Kälber werden miterzogen. Die Mutter ist in den ersten Wochen der wichtigste Bezugspartner für das Kalb. Und auch Spielpartner. Selbst die kleinsten spielen schon kämpferisch mit ihren Müttern und die Mütter lassen sich darauf ein. Dadurch wird die Sozialkompetenz der Kälber früh gefördert. Was bei Kälbern, die ohne erwachsene Tiere gehalten werden, nicht der Fall ist. Die müssen das später zum Teil auf die harte Tour lernen.

Landwirtinnen und Landwirte, die die Elternzeit praktizieren, sagen, sie verdienten zwar weniger an der Milch, aber gäben auf der anderen Seite auch weniger für den Tierarzt aus. Die Kälber seien kaum krank.

Wenn die Tiere unter vergleichbaren hygienischen Bedingungen gehalten werden, gibt es keinen Unterschied, zeigt die Wissenschaft. Es gibt Studien, die beweisen, dass die Kälber gesünder sind, es gibt Studien, die beweisen: Es gibt auch Probleme. Es kann aber sein, dass einzelne Betriebe nach der Umstellung gesündere Tiere haben. Betriebe, die vielleicht vorher Probleme hatten, weil beispielsweise die Tränktemperatur nicht stimmte, die Tiere am Eimer nicht trinken durften, wie viel sie wollten oder Betriebe, bei denen die Kälberbetreuung nicht so gut war.

Was das Geld bei der Vermarktung anbelangt: Fast alle Studien sind sich einig: Die Höfe machen unter den aktuellen Bedingungen gerade noch kein Plus. Das Mehr an Milch, die ich den Kälbern gebe, muss kompensiert werden. Und das wäre nur durch einen höheren Milchpreis möglich.

Wie hoch müsste der sein?

Die Uni Kiel sagt: Um die 20 Cent mehr pro Liter. Kommt aber ganz auf den Betrieb an.

Knapp 200 Höfe in Deutschland praktizieren die mutterkuhgebundene Aufzucht. Listen von Verbänden und Kampagnen zeigen: Es ballt sich im Allgäu. In den übrigen Teilen Deutschlands gibt es, mit Ausnahme Schleswig-Holsteins, weniger. Warum?

Mir ist nicht bekannt, dass die Ursachen dafür einmal untersucht wurden, aber das Engagement von Einzelpersonen, wie Mechtild Knösel am Bodensee, sowie die Arbeit von Erzeugergemeinschaften (Demeter HeuMilch Bauern im Süden, De Öko Melkburen im Norden) haben sicher dazu beigetragen. Und nicht zu vergessen: Landwirtinnen und Landwirte müssen das für sie passende System selbst entwickeln. Da hilft der Austausch mit erfahrenen Nachbarn und Gleichgesinnten.

Studien beweisen: Es gibt auch Probleme mit der Elternzeit.

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