Bitte mehr „Utopisten“

  • Antonio De Mitri über die Psychologie des Machbaren in Zeiten des Stillstands privat

Historisch? Mit solchen Begriffen sollte man wählerisch umgehen. Wenn große Ereignisse immer gleich als historisch gelten, blickt man irgendwann in den Geschichtsbüchern nicht mehr durch. Dennoch: Für die Region Heilbronn-Franken war dieser Dienstag so ein Datum. Und es ist nicht übertrieben, wenn man dem Ganzen eine bundesdeutsche Dimension beimisst. Denn so etwas wie den IPAI-Campus, der jetzt in Heilbronn gebaut wird, gibt es kein zweites Mal hierzulande: ein „Tempel“ für Forschung und Entwicklung rund um Künstliche Intelligenz, in dem Wissenschaftler, Studierende und Unternehmen Hand in Hand arbeiten und an den neuesten Anwendungen für die Wirtschaft tüfteln.

Übertrieben? Keineswegs. Die Initiative Baden-Württembergs und der Dieter-Schwarz-Stiftung ist bitter nötig in einem Land, das nur noch zwischen Stillstand und Frust zu taumeln scheint. Zu hohe Energiekosten, zu viel Bürokratie, miserable Infrastruktur – die Klageliste ist lang. Und sie ist natürlich auch berechtigt. Doch der IPAI in Heilbronn zeigt auf, was Wirtschaft zu einem großen Teil auch ausmacht: Psychologie. Das so oft beschworene „einfach mal machen“. Freilich, wenn Fördersummen von 100 Millionen Euro und mehr fließen, ist dieses Machen denkbar einfach. Aber die Mittel würden eben auch nicht fließen, wenn nicht Menschen an den Geldhähnen säßen, die vom unbedingten Glauben an das Machbare überzeugt wären.

Utopisch? Wenn dieser Glaube an das Machbare keine Substanz hätte, wäre die ganze Euphorie nicht nur umsonst, sondern fahrlässig. Ja, die Konkurrenz ist übermächtig. In den USA und China werden Budgets für KI in die Hand genommen, da bekommt man in Deutschland gleich Schluckauf. Aber wieso sich überhaupt in einen Wettbewerb stürzen, den man nicht gewinnen kann? Der IPAI fährt folgerichtig auf einer ganz anderen Spur: Am Campus wird nicht die x-te generative Chat-KI entstehen. Hier wird an der industriellen Revolution des 21. Jahrhunderts geforscht: KI-Technologien gezielt für die Wirtschaft.

Sinnvoll? Mehr als das: überfällig. Dass Deutschland den Fachkräftemangel nicht mehr in den Griff bekommen wird, ist ein offenes Geheimnis. Die Zukunft liegt in der fortschreitenden Automatisierung von Prozessen. Und hierfür ist KI prädestiniert. Sie wird leider sicherlich Arbeitsplätze ersetzen. Aber eben auch fehlende Arbeitskräfte.

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