Literarische Wanderung
Galerie Der Verein KISS – Kunst im Schloss Untergröningen zeigt bis 21. November die Ausstellung „Echopraxia“. Die Germanistin Silke Hansen bot mit Rilke-Gedichten eine besondere Sichtweise auf das Gezeigte.
In diesem Jahr feiert die Literaturszene den 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke. Die Ausstellungsmacher von KISS mit Kurator Jan-Hendrik Pelz nahmen diesen Termin zum Anlass, daraus ein lyrisch eingefärbtes Angebot zu einigen der rund 250 ausgestellten Werke von 60 Künstlerinnen und Künstlern zu machen.
Mit dem Ausstellungsmotto „Echopraxia“ ist zunächst das bekannte Phänomen einer künstlerischen Nachahmung gemeint, der statt einer einfachen Kopie dann eine weiterführende Inspiration folgt, die an die ursprüngliche Vorlage nur noch entfernt erinnert. Es geht also um den Versuch, vertrauten Kunstwerken eine neue, nur noch in Ansätzen zitierende Sichtweise zu verschaffen. Silke Hansen wagte den Versuch, mit 17 Gedichten von Rilke eine lyrisch umwobene Sichtweise über das riesige Bilderspektakel der Ausstellung im Barockschloss zu legen, ohne sich in den Untiefen des umfangreichen Werks des Neuromantikers und Symbolisten zu verirren.
Kunst des Innehaltens
Schon die Ankündigung auf die etwa einstündige Nachmittagsveranstaltung machte neugierig. Wie kommen bildhafte Echo-Adaptionen mit symbolhafter Lyrik zusammen? Gibt es eine erhellende Schnittmenge zwischen den beiden Elementen? Wer eine Art von besinnlicher Dichterlesung erwartet hatte, wurde mit purer Aktionskunst überrascht. Rund 70 Besucherinnen und Besucher in zwei Gruppen wurden von Silke Hansen im Wechsel zu ausgewählten Bildern geführt, die in den weitläufigen Galerieräumen zu finden waren. Die Kunst für das Publikum bestand beim Innehalten darin, zwischen der rezitierten Lyrik und dem Bild- und Objektmaterial eine interpretierende Beziehung herzustellen.
Hansen verzichtete bewusst auf eigene Interpretationshinweise, zumal sie davon ausgehen durfte, dass Gedichte wie der „Herbsttag“ den Zuhörern durchaus geläufig waren. Die gelingende Verarbeitung vom akustischen Ereignis und optischen Blickfang lag in der Verantwortung jedes Einzelnen. „Welches Sinngedicht fällt Ihnen bei diesem Bild ein?“, lautete einmal die aufmunternde Anfrage ans Publikum.
Das Werkverzeichnis von Rilke ist umfangreich und bietet offensichtlich viele Möglichkeiten. Die wahlweise Verwendung von Dinggedichten – „Der Panther“, „Der Engel“ – oder subtilen Allegorien – „Die Kindheit“, „Der Schauende“ – verändert wechselseitig die Sichtweise auf das bildnerische oder literarische Werk. Damit lässt sich vortrefflich spielen. Der Wirkungskreis reicht von banaler Gegenstandsbeschreibung über gedankliche Assoziationen bis zu sarkastisch-ironischer Kontrastierung eines Themas. Silke Hansen rezitierte stets behutsam, verzichtete auf Pathos und wahrte damit die gebotene Neutralität.
Musikalische Abrundung
Die literarische Wanderung durch die Galerieräume wurde gegen Ende mit mehreren biografischen Erläuterungen „Der Dichter und die Welt“ durch Susanne Jungkeit und Katharina Kaupp ergänzt. Zu Beginn und am Schluss der Veranstaltung sorgten Laurenz Fauser (Keyboard), Melanie Rasch (Querflöte) und Bernd Wiedmann (Akustische Gitarre) für eine sorgfältig ausgewählte musikalische Abrundung des Nachmittags.
Die Reaktion des Publikums auf das Rilke-Experiment war nicht einheitlich positiv. „Ich habe mich überfordert gefühlt“, schilderte ein Besucher seine Eindrücke. Die große Zahl der Besucher habe für Unruhe und Konzentrationsprobleme gesorgt, meinte er im Hinblick auf die vorgenommene Einteilung in zwei verschiedene Gruppen, denen jeweils die Gedichte zeitversetzt vorgetragen wurden. Eine andere Gesprächspartnerin widersprach. „Ich habe mich wohlgefühlt. Man konnte sich reinträumen“, schilderte sie ihre Empfindungen.
Für Kurator Jan-Hendrik Pelz, der das Thema Echopraxia vorgab, dürfte das literarische Rilke-Experiment eine Initialzündung für weitere Kunstimpulse gewesen sein. Die Veranstaltung mit Silke Hansen wird am Sonntag, 16. November, um 16 Uhr wiederholt.