Roman
Er erstreckt sich über eine Länge von zweihundert Kilometern und fließt in drei Etagen ins Reich hinein. Gleichmütiges Brummen in der Atmosphäre, offene Schneise am Himmel über der Stadt. Ein Hammer, der fällt. Die Sprengbombe stanzt Löcher in den Stadtplan. Die Luftmine öffnet Tür und Tor zu jeder Wohnung. Die Brandbombe endlich entfacht, was über sich hinauswachsen will ins Elementare, Monströse, Vulkanische. Feuersturm. Ginsterburg wellt sich und knistert. Faltet sich zusammen wie Papier im Ofen.
An die freistehende Wanne im Turmzimmer hat er sich Otto Gürckel noch immer nicht gewöhnt. Es ist unpraktisch, es ist dekadent. Aber Henriette hat darauf bestanden, und es sieht fantastisch aus. Durch die gotischen Fenster kann er den Feuerschein sehen über der Stadt. In der Luft liegt der Duft ätherischer Öle. Ein schwacher Dunst steigt auf von ihrem Bad. Henriette hat ihn schon gehört, als er den Raum betreten hat.
„Was machst du denn noch hier?“, fragt sie, ohne sich nach ihm umzudrehen. „Deine Stadt brennt. Wirst du jetzt nicht gebraucht?“
„Wir haben unsere Söhne gegeben. Meine Frau braucht mich jetzt. Und ich brauche meine Frau.“
Henriette entfährt ein seltsames Geräusch. Es kann ein Schluchzen sein, es kann ein Lachen sein. Vielleicht auch nur ein Plätschern. Das Feuer im Kamin knistert und seufzt. Noch ist nicht alles verloren, noch ist nicht alles zu spät. Otto tritt näher an die Wanne heran. Er sieht ihre Knie wie weiße Inseln.
„Ich bin da“, sagt er nach einer Weile. „Ich bin bereit.“
„Bereit? Wofür?“
Er kann sehen, wie sie im Wasser ihre nackten Zehen bewegt.
„Morgen sind wir weg. Hast du das nicht gestern gesagt? Heute ist morgen. Ich habe den Wagen vollgetankt. Ich habe die Papiere. Ich habe das Geld. Ich bin bereit.“
Diesmal ist es eindeutig ein Lachen, das ihr entfährt. „Otto, Otto, Otto“, sie greift sich einen Schwamm und fährt sich damit über den Nacken. „Männer wie du haben nur ein Leben, an dem sie hängen, aus dem sie etwas machen wollen, das sie sogar hergeben würden für die Sache. Frauen wie ich haben viele Leben, manche davon nacheinander, andere gleichzeitig. Und wenn eine Welt untergeht, wechseln wir in die nächste“, sagt sie und dreht sich dabei auf den Bauch, um ihm ins Gesicht schauen zu können. „Julka?“, ruft sie.
„Ich lasse dich nicht gehen, Henriette. Nicht noch einmal.“
Sie gluckst und wringt den Schwamm aus, das Wasser in der Wanne wirft Wellen. „Mein grobes, dummes, eifriges Schweinchen. Du kannst das nicht verstehen.“
In der Tür zur kleinen Kleiderkammer erscheint Julka. Sie trägt schon wieder das lindgrüne Negligé und hält ein Handtuch ausgebreitet. Morgen sind wir weg. Jetzt erst versteht Otto, was Henriette mit diesen Worten gemeint hat. Und jetzt weiß er auch, was ihm zu tun bleibt. Rückwärts geht er aus dem Raum, langsam, um sich das Bild einzuprägen.
Die Göttin im Bade.
Ihre Dienerin in der Tür.
Benommen steigt er die Stufen hinab, die schmale Wendeltreppe zum Turmzimmer, die stolze Freitreppe in die Empfangshalle. Sein Blick fällt auf den Benzinkanister neben der Haustür, mit dem er den Wagen vollgetankt hat. Ruhig greift er danach und schraubt den Verschluss ab. In einer einzigen fließenden Bewegung schüttet er das restliche Benzin über die hölzernen Stufen der Treppe, schüttelt den letzten Rest auf den Teppich und wirft den Kanister hinterher. Erst das dritte Streichholz zündet. Er wartet, bis die Flammen nach den Vorhängen greifen und die Treppe hinaufsteigen, Stufe für Stufe. Dann tritt er vor die Tür ins Freie und schließt ab, einmal, zweimal. Nestelt am Bund und sucht den Schlüssel für den Dienstboteneingang. Dort muss er jetzt auch noch verriegeln.
„Gürckel? Gut, dass ich Sie antreffe!“
Er fährt herum.
Zwei Männer treten aus der Dunkelheit zwischen den Rosenstöcken ins Licht der Laterne. Es ist Hansemann, der mit vorgehaltener Waffe eine strauchelnde Gestalt vor sich hertreibt.
„Herr Professor! Zurück aus dem Osten?“
„Die letzten Kilometer sogar zu Fuß!“
Fortsetzung folgt
© Klett-Cotta, Stuttgart