„Möchte diese Leute ins Feuer werfen“
Spanien Vor einem Jahr ging im Umland von Valencia ein Unwetter nieder, das 229 Menschen das Leben kostete. Viele Überlebende warten immer noch auf den Wiederaufbau ihrer Häuser. Die Wut auf die Behörden ist groß. Die Solidarität auch.
Im Sommer kamen endlich zwei Männer mit einem Bagger, um aufzuräumen. Constanze Waliño, die an diesem Ort bis zum Tag der Katastrophe gelebt hatte, passte auf. „Dort in der Ecke liegt vielleicht noch ein Stofftier“, sagte sie den Arbeitern. Der Baggerfahrer stellte den Motor ab und machte sich zwischen Dreck und Schutt mit seinem Kollegen und Constanze auf die Suche. „Die hatten eine unglaubliche Geduld“, erzählt sie. „Und als ich schon das Handtuch werfen wollte, hat der eine Bauarbeiter es gefunden.“ Er gab es Constanze, und die brachte den Fund ihrem Mann. „Ich verstand nicht: Was ist dieses schwarze Häufchen?“, erinnert sich Felipe. Unter dem Wasserhahn wurde aus dem verdreckten Lumpen ein rosa Kätzchen: eine Handarbeit von Felipes Mutter, ein Erbstück. „Ich war sehr glücklich, es wiederzuhaben.“
Felipe und Constanze haben an dem Tag, als die Flut kam, alles verloren. Im Hinterland von Valencia war am Nachmittag des 29. Oktober ein Jahrtausendregen niedergegangen. Am frühen Abend kam das Wasser in Picanya und in den anderen Vorstädten Valencias am Barranco de Poyo an. Ein Barranco ist ein trockenes Flussbett, das sich nur bei gelegentlichen starken Regenfällen füllt. Das kennen die Valencianer. Aber was an jenem 29. Oktober geschah, so etwas kannten sie nicht. Das Wasser kam heruntergeschossen, als wäre ein Staudamm geborsten, der Fluss trat weit über die Ufer. 229 Menschen starben, von denen zwei noch vermisst werden; der bisher letzte Leichnam kam erst vor wenigen Tagen zum Vorschein.
Felipe und Constanze überlebten. Aber ihr Haus, in einer einst idyllischen Uferstraße von Picanya, ist zerstört. Irgendwo flussaufwärts hatten die Fluten ein metallenes Silo losgerissen, das nun stromab taumelte und in Picanya gegen die Fassaden der alten Uferhäuser prallte. Von Felipes und Constanzes Haus steht nur noch der hintere Teil. Eine Ruine. Sie wissen noch nicht, was aus ihr wird.
Immerhin ist jetzt aufgeräumt, nachdem sich monatelang niemand gefunden hatte, die Trümmer wegzuräumen, weil überall aufgeräumt werden musste. Die beiden können das Haus jetzt wieder betreten: das, was von ihm übrig ist. „Ja, war ein sehr schönes Leben hier“, sagt Constanze, als sie das Schloss des provisorischen Tors öffnet. Und dann: „Ich komme nicht gerne hierher.“ Der Anblick schmerzt. Geblieben sind ein paar Wände und Decken, wie ein unvollendeter Rohbau. Aber im kleinen Patio im hinteren Teil des Hauses steht noch der alte Olivenbaum. „Er ist der einzige, der überlebt hat“, sagt Felipe „Unser Symbol der Resistenz und des Lebens.“
Was bleibt, ist große Erschöpfung
Was von der Katastrophe übrigblieb: eine Ruine, ein Olivenbaum, ein rosa Kätzchen, etwas Geschirr, gerettete Fotos. Und eine große Erschöpfung. Constanze, die Deutsche, ist 65 Jahre alt, Felipe, der Spanier, wird dieser Tage 67. Die meisten Menschen möchten in diesem Alter kein neues Leben beginnen, sondern das Geschaffene genießen. Die beiden lernten sich vor 30 Jahren in Freiburg im Breisgau kennen, vor 13 Jahren zogen sie in Felipes alte Heimat in das renovierte Haus an der idyllischen Uferstraße.
Seit einem Jahr nun versuchen sie wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Sie leben in einer Sozialwohnung in der Nähe des Bahnhofs, einen halben Kilometer vom Barranco entfernt. Neulich wäre Felipe beim Queren der Gleise, gedankenverloren, beinahe von einem Zug überrollt worden. Er sah nicht das rote Licht und hörte erst im letzten Moment das Hupen des Zuges. „Da fehlte nicht viel“, sagt Constanze, die die Szene von der Wohnung aus sah. Seitdem geht Felipe zu einer Psychologin. Er strahlt innere Ruhe aus. Aber innerlich quälen ihn Sorgen und auch Wut. „Das ist die Frage, die ich mir stelle: Wie werde ich den Hass auf diese Leute los?“, sagt er mit seiner leisen Stimme. „Ich möchte sie ins Feuer werfen. Aber gleichzeitig merke ich, dass ich selbst verbrenne.“
Hinter Picanya strömten die Fluten noch 15 Kilometer den Barranco de Poyo hinab, brachten 15 weitere Kilometer Tod und Zerstörung, um sich dann in die Albufera zu ergießen. Die Albufera ist eine 24 Quadratkilometer große, von Reisfeldern umgebene Lagune. Die Reisbauern hatten gerade ihre Ernte eingebracht und blieben von größeren Schäden verschont, aber in der Lagune landeten Schlamm, Autos, Möbel, auch einige Leichen. Die Toten sind geborgen, der Müll ist abtransportiert, der Schlamm noch nicht ganz. Beschädigte Wege, Dämme und Bewässerungskanäle sind repariert. Die Albufera hat die Katastrophe überstanden.
„Es war sehr hart“, sagt Santos Ruiz Álvarez, der Direktor des Verbandes der Reisbauern des Gütesiegels „D.O. Arroz de Valencia“. „Es war sehr hart, weil wir selber nicht wussten, was wir tun sollten.“ Der Direktor wendet sich an die Freunde des Verbandes, die er zum jährlichen Fest in die Nähe der Lagune geladen hat. „Eure Anrufe haben uns gerettet. Die Leute, die uns fragten: ‚Wie geht es euch?‘ Und glaubt mir, das war ein großer Trost zu wissen, dass ihr an uns denkt. Ihr seid gekommen. Ihr seid alle gekommen. Maurer kamen, Klempner kamen, Künstler kamen, Buchhalter kamen. Ganz Valencia kam, ganz Spanien kam. Ihr alle kamt, um uns zu umarmen und uns dabei zu helfen wieder aufzustehen und uns an die Arbeit zu machen.“
Unter den Gästen sind etliche Köche. Auch sie kamen, als sie im Katastrophengebiet gebraucht wurden. Die vom spanischen Koch José Andrés gegründete internationale Hilfsorganisation World Central Kitchen verteilte täglich 16.000 Bocadillos – belegte Brötchen – an die Flutopfer. Auch Bernd Knöller half mit. Knöller ist ein deutscher Koch, der, von der Liebe nach Valencia verschlagen, dort seit gut drei Jahrzehnten das Restaurant RiFF (ein Michelin-Stern) betreibt. Nach der Katastrophe backte er Brote für die Menschen in den Vorstädten. Valencia selbst war von den Fluten verschont geblieben. Als die Valencianer erfuhren, was die Katastrophe in ihrem Umland angerichtet hatte, machten sie sich in Gummistiefeln mit Schaufeln und Wasser und Brot zu Tausenden auf den Weg in die überfluteten Vorstädte. „Die haben gemacht, was man machen konnte“, sagt Knöller. „Es war eine große Aktion. Aber vor allem eine große Demonstration.“ Eine, die sagte: Wir sind für euch da, wenn die Behörden versagen.
Politisches Versagen
Dass das Unwetter zur Katastrophe wurde, hatte auch politische Gründe. Ein seit 2006 geplanter Entlastungskanal für den Barranco de Poyo war unter drei spanischen Regierungen nicht gebaut worden. Ein Notfallsystem, das eine dringende Warnung auf alle Mobiltelefone der Gegend schickte, wurde etliche, todbringende Stunden zu spät ausgelöst. Und nach der Katastrophe brauchten Rettungsdienste und Militär Tage, um auch nur die dringendste Hilfe in die betroffenen Orte zu bringen. Dafür kamen die Menschen aus Valencia und bald aus ganz Spanien, um anzupacken, wo sie gebraucht wurden.
Wenn Felipe vom „Hass auf diese Leute“ spricht, dann meint er die Politiker, die ihren Aufgaben nicht gewachsen waren und nicht gewachsen sind. In Picanya ist immer noch nicht entschieden, was aus der Uferstraße werden soll, in der Felipes und Constanzes Hausruine steht. Eine Idee wäre, alle Häuser abzureißen und sie ein paar Meter zurückversetzt hügelaufwärts wiederaufzubauen. Felipe und Constanze hielten das für richtig.
Der Platz dafür ist da. Doch niemand will die teure und nicht von allen geliebte Entscheidung treffen. Stattdessen fühlt sich Felipe vom Rathaus bedrängt, dass er seine Ruine abreißen soll, was er nicht tun will, solange die Stadt nicht ihre Pläne für die Uferstraße offenlegt. „Das Rathaus hat alle Zeit der Welt, aber wir sind blockiert“, sagt Constanze.
Dass sie auf den Beinen geblieben sind in den vergangenen zwölf Monaten, verdanken Felipe und Constanze dem Trost und der Hilfe von Freunden und Fremden. „Du schaffst es nicht alleine“, sagt Constanze. Es braucht Menschen wie die Bauarbeiter, die ihren Bagger stoppten, um ein rosa Kätzchen zu finden. „An diese Menschen zu denken“, sagt Felipe, „das beruhigt mich. Es nimmt mir etwas von diesem Hass.“
An die Helfer zu denken, beruhigt mich. Es nimmt mir etwas von diesem Hass. Felipe Waliño Flutopfer