„Ich bin es leid, mich zu verstecken“

  • Massimo Mantarro ist bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen. Foto: privat
  • Mitglieder der Zeugen Jehovas werben in einer Fußgängerzone für ihren Glauben. Wer einmal zu ihnen gehört, kommt schwer wieder raus. picture alliance/dpa/Matthias Balk

Glaubensgemeinschaft Massimo Mantarro ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen. Nach 17 Jahren beschließt er, auszutreten – mit einem Video, in dem er seine Gründe erklärt. Freunde und Familie könnte er für immer verlieren.

Auf seinem Bett, in einer kleinen Neu-Ulmer Dachgeschosswohnung, sitzt Massimo Mantarro vor seiner Kamera und drückt auf Aufnahme. Zwischen schwarzen Locken schimmern erste graue Strähnen hindurch. Was er in die Kamera spricht, hat er sich monatelang überlegt. Viele der Menschen, die er im Video adressiert, wird er danach nie wieder sehen. Darunter Familienmitglieder. Manche werden ihn ohne ein Wort blockieren – für sie wird er gestorben sein.

Der heute 29-jährige Mantarro ist noch ein kleiner Junge, als seine Mutter ihn das erste Mal zu einer Zusammenkunft ihrer Versammlung mitnimmt. Versammlung, so nennen die Zeugen Jehovas ihre Gemeinden. Und davon gibt es viele. In den sogenannten Königreichssälen treffen sich deutschlandweit wöchentlich 178.000 Gläubige. Auf der Straße, an ihren Ständen, werden sie häufig belächelt, nur selten öffnet ihnen jemand die Tür. Bekannt ist, dass sie keine Geburtstage feiern, unter sich bleiben und nach rigiden Regeln leben. Dennoch wissen viele nur wenig von der Gemeinde, die an den bevorstehenden Untergang der Welt glaubt.

Die Erfahrungsberichte von Massimo Mantarro und zwei weiteren jungen ehemaligen Zeugen legen allerdings nahe, dass insbesondere junge Menschen unter den Regeln der Gemeinschaft leiden. Der drohende Ausschluss nach Verstößen ist dabei nur ein Mechanismus, der sie psychisch unter Druck setzt.

Eine Woche bevor Mantarro sein Abschiedsvideo aufnehmen wird, sitzt er in der Sonne auf der Terrasse eines Grillrestaurants in Neu-Ulm. Er lacht viel und gibt sich unbeschwert. Doch kaum verfliegt das Lächeln, fällt sein Blick ins Leere. Er redet leise und in leicht geduckter Haltung, sobald er beginnt, über die Zeugen Jehovas zu sprechen. „Ich hab‘ große Angst, meine Familie zu verlieren“, sagt er. Seit drei Jahren glaubt er nicht mehr an die Lehren der Organisation, geht seitdem nicht mehr zur Versammlung. Dass er nicht mehr an Jehova glaubt, gar kritisch eingestellt ist gegenüber den Lehren und Regeln, darf er nicht offen sagen. Denn kritisch oder schlecht über die Organisation zu reden, führt unweigerlich zum Ausschluss. Mit seinem Video will er dem zuvorkommen: „Ich bin es leid, mich zu verstecken.“

Bis er dafür bereit war, sind Jahre voller Angst und Zweifel vergangen. „Es wird dir eingeredet, dass überall Dämonen sind“, sagt er. Laut dem Glauben der Gemeinschaft lauert Satan hinter jeder Ecke. Kein „Weltlicher“ – so werden jene genannt, die keine Zeugen Jehovas sind – wolle einem etwas Gutes. Die Welt ist schlecht, Armageddon, der letzte Kampf zwischen Gut und Böse, könne jeden Tag eintreten. Viele glauben, dass dabei alle sterben werden, die keine Zeugen Jehovas sind. Deshalb werde man dazu gedrängt, immer mehr zu beten und zu predigen. „Durch diese Angst wird es sehr schwer, das System zu hinterfragen“, sagt Mantarro. Das System, sagt er, beruhe auf Angst und Selbstverleugnung.

Aaron, ein junger ehemaliger Zeuge, der nicht mit richtigem Namen in der Zeitung stehen möchte, spricht gar von einer Angstherrschaft. „Ich hatte ständig Angst, dass Armageddon kommt und ich nicht gerettet werde“, erzählt er. Nach einem Klinikaufenthalt sei er schließlich ausgetreten. Der psychische Druck war zu groß.

Dieter Rohmann ist Psychologe und berät seit rund vier Jahrzehnten Aussteiger und Aussteigerinnen, aus Glaubensgemeinschaften, Sekten und Kulten. Rund 300 ehemalige Zeugen und Zeuginnen Jehovas habe er bereits psychologisch betreut. Er betont: „Sie sind permanent in einer Art Bringschuld, jede Stunde am Tag das ‚Richtige‘ zu denken, zu fühlen und zu tun.“

Mittlerweile dämmert es. Mantarro sitzt auf der noch warmen Bordsteinkante vor einem Mehrfamilienhaus. Auf seinem Arm sind feine Striche zu sehen. Narben, die ihn an eine schwere Zeit erinnern. Keineswegs wolle er in seinem Video nur Vorwürfe äußern. Vielmehr gehe es darum, andere Zeugen zum Nachdenken anzuregen: „Vielleicht ist ja jemand dabei, dem ich mit dem Video helfen kann.“

Neben der latenten Angst, nicht zu genügen, ist da die Scham. Sarah, Mitte zwanzig, ist offiziell noch Zeugin Jehovas – um ihr soziales Umfeld nicht zu verlieren. Auch sie möchte nicht mit richtigem Namen in der Zeitung stehen. Seit Jahren besucht sie keine Versammlungen mehr. Pornografie, Masturbation und sexuelle Kontakte vor der Ehe lehnen die Zeugen Jehovas ab. Ebenso Homosexualität. „Ich hatte ganz normale sexuelle Fantasien, die im Teenageralter eben auftreten und habe mich deswegen sehr geschämt“, erzählt sie. Wegen des Konformitätsdrucks werde untereinander darüber nicht geredet.

Die rigide Haltung zur Sexualität spiegelt sich auch im Frauenbild der Zeugen Jehovas wider. Schon als Teenager zweifelte Sarah daran. Dafür sei sie in ihrer Versammlung im doppelten Sinne kritisiert worden: „Als Mensch, weil ich kritisch war und als Frau, weil man die Hierarchie nicht hinterfragen soll.“ Frauen dürfen in den Versammlungen nicht predigen, wichtige Positionen sind ausschließlich von Männern besetzt.

Wie jede Doktrin der Organisation wird auch diese mit der Bibel begründet. Ihr kritisches Denken habe sie als eine schlechte Eigenschaft an sich selbst wahrgenommen. Andere Mitglieder hätten sie gemieden. Die Folge: Einsamkeit. Ein Gefühl, das auch Aaron und Mantarro begleitet hat. „Ich glaube, Einsamkeit entsteht, wenn dein authentisches Ich nicht zum Vorschein kommen darf“, erklärt Sarah. Der Psychologe Rohmann bestätigt sie und ergänzt: Es existiere nur Richtig oder Falsch, Gut oder Böse. „Dazwischen gibt es keinerlei Spielraum für die Mitglieder.“

Eine Woche später ist Mantarros Video online. „Hier ist die Hölle los“, schreibt er in einer Nachricht. Viele würden ihm schreiben, andere Zeugen Jehovas hätten ihn bereits blockiert. Auch enge Verwandte hätten mit ihm gebrochen. Ein „Rechtskomitee“, in dem die Versammlungsältesten über seinen Ausschluss urteilen, stehe noch aus. Er spricht von Psychoterror, vor allem weil er wisse, dass die Menschen, die ihm lieb sind, „nie ein normales Leben kennenlernen werden“. Trotz alledem sei er glücklich.

So geht es nicht allen. Das zeigt eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2023. Dafür sind 424 ehemalige Zeugen Jehovas im deutschsprachigen Raum zu ihrer Lebenssituation befragt worden. Ein Drittel der befragten Personen hatte nach Verlassen der Gemeinschaft Suizidgedanken, ein Zehntel unternahm einen Suizidversuch. Auch waren die Befragten ein Drittel häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Nach Verlassen der Gemeinschaft waren demnach 77 Prozent von verordnetem Kontaktabbruch – dem Ausschluss – betroffen.

„Der Umfang dieses eingeschränkten Kontakts hängt von den persönlichen Umständen und dem individuellen Gewissen ab“, sagt Sebastian Stock. Er ist Pressesprecher der Zeugen Jehovas in Deutschland. „Falls aber eine Person die Gemeinschaft verlasse und falsches Verhalten fördere, folgen wir der biblischen Anweisung, so eine Person nicht zu grüßen“. In der Praxis verlieren viele ihr gesamtes soziales Umfeld.

Stock bezweifelt die Glaubwürdigkeit der Studie. Es könne sich bei den Teilnehmern auch um Kritiker handeln, welche die Studie ausnutzten, um eine religiöse Minderheit zu verleumden. Das Misstrauen ist groß.

Kurz nach dem Ausstieg fühlt man sich in den Worten von Rohmann wie ein Alien. „Das ist, wie wenn du in einem anderen Land ausgesetzt wirst“, beschreibt Aaron die Zeit danach. Indessen hofft Mantarro auf Normalität. „Nicht mehr aufpassen zu müssen, was ich sage und was ich mache, dass ich frei bin und mein Leben leichter wird, das ist ein Lichtblick.“

Dass ich frei bin und mein Leben leichter wird, das ist ein Lichtblick.

Durch die Angst wird es sehr schwer, das System zu hinterfragen.

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