Roman

  • Cover Klett-Cotta, Stuttgart

Linker Hand fehlen ein paar Sessel. Seitlich schiebt er sich durch die Sitzreihe. Gleich unter dem Loch, das die Sprengbombe durch das Dach geschlagen hat, klafft ein weiteres Loch im Boden. Er kann hinunterschauen in den Heizungskeller. Die Heizung wird mit Öl betrieben. Kattwinkel geht in die Hocke und späht hinunter. Hinter ihm fällt die erste Stabbrandbombe auf den Teppich und faucht. Die zweite landet ebenso lautlos auf dem purpurnen Vorhangbündel auf der Bühne. Kattwinkel guckt nach unten. Das Öl steht vielleicht knietief. Die dritte Stabbrandbombe verfehlt seinen Kopf nur knapp und fällt hinein in den Keller.

Gerade steigt ein Techniker die Leiter hinunter, die Lothar gleich hinaufklettern wird. Die Natter steht schon unter Dampf. Startbereit. Aufrecht in ihrer Lafette wirkt die Wunderwaffe wie ein Spielzeug. Stummelflügel wie Stützräder an einem Kinderfahrrad. Verborgen im Heck der Hauptmotor, eine Rückstoßturbine der Firma Walter. Wie rote Feuerlöscher die beiden zusätzlichen Zwillingstriebwerke von Schmidding. Die Abdeckung der Kanzel ist nach hinten geklappt. Keine Hoheitszeichen. Handschriftlich auf dem linken Höhenruder nur eine Botschaft für den Fall, dass die Rakete vom Kurs abkommen und einem uneingeweihten Volksgenossen vor die Füße fallen sollte:

FUND BEI KOMMANDEUR

TRUPPENÜBUNGSPLATZ HEUBERG MELDEN.

TEL. STETTEN AM

KALTEN MARKT 222

BELOHNUNG!

Unten wartet Erich Bachem. Der Ingenieur hat den Kragen seines Mantels hochgeschlagen und raucht, in stiller Versenkung vor seiner Schöpfung. Lothar mag den Mann. Kein Machtmensch wie Gerhard Fieseler, kein Kraftmensch wie Willy Messerschmitt. Kein Übermensch. Eher ein Gemütsmensch.

Zwar muss er Heinrich Himmler persönlich von seinem Projekt überzeugt haben. Eine massenweise Zuteilung von KZ-Häftlingen aber soll er strikt abgelehnt haben. Humor hat er, der Bachem. Aber keinen Ehrgeiz. Die Idee für die Natter habe er von einem Kollegen aus Peenemünde „ausgeborgt“, Wernher von Braun, der habe ihm das Prinzip vor Jahren schon auf eine Serviette gekritzelt. Vor ein paar Wochen hat er Lothar „ganz im Vertrauen“ seine Entwürfe für einen „Wohnwagen“ gezeigt. Ein lächerliches Sperrholzvehikel, mit dem die Deutschen nach dem Endsieg noch einmal Europa erobern sollen, wenn es nach dem Ingenieur geht. Freilich friedlich diesmal.

In den fetten Jahren jedenfalls hat Bachem es, anders als Fieseler oder Messerschmitt, nicht zum Industriellen gebracht. Obwohl er das Zeug dazu gehabt hätte. Sein „Problem des Schnellstfluges“ hat Lothar schon als junger Segelflieger gelesen, mit roten Ohren. Keine Heldengeschichte, sondern eine verständliche Abhandlung über Antriebe der Zukunft und Aerodynamiken im strömungstechnischen Grenzbereich. Jules Verne auf dem Boden physikalischer Tatsachen. Damals lag die Schallmauer noch ferner als der Mond. In Sichtweite, aber unerreichbar.

Heute, am 1. März 1945, wird Lothar sie durchbrechen.

„Ah, ein Mensch!“, sagt Bachem und schnippt seine Zigarette fort.

Lothar lächelt über die An­spielung. Fünfzehn erfolgreiche Probeflüge hat es bisher gegeben – mit einer Strohpuppe in der Kabine.

Kurzes Händeschütteln, dann wenden sie sich der Natter zu, wie sie da steht und dampft. Ihr Konstrukteur in skeptischer Andacht, ihr Pilot mit neugierigem Respekt.

„Jetzt wäre wohl der richtige Zeitpunkt“, bemerkt der Ingenieur, „für letzte Instruktionen meinerseits“, und beide lachen.

Lothar hat das Gefühl, schon Monate hier oben verbracht zu haben. Dabei waren es kaum drei Wochen, in denen er sich mit dem fremden Gerät vertraut gemacht hat. Hineingeschlüpft ist er in die Natter, wie in einen Handschuh. Wenn er erst einmal den Charakter einer Maschine begriffen hat, ist sie schon so gut wie zugeritten. Dann gehört sie ihm. Wie die Falter und Schmetterlinge, die er als Kind gesammelt hat. Die Natter betrachtet er als den Totenkopffalter in seiner Sammlung. So selten, dass es sie eigentlich gar nicht gibt.

Fortsetzung folgt

© Klett-Cotta, Stuttgart

VORHERIGER ARTIKEL NÄCHSTER ARTIKEL