Roman
Sicherheitshalber weicht sie in die mittelalterliche Schlucht des Nasengässchens aus, das zwischen den hohen Mauern der Hinterhäuser und der klippenhaften Münsters verläuft. Hier ist es dunkel und riecht nach Urin. Kein Ort für einen blauen Fuchs, denkt Uta, und sieht sich nach ihrem Begleiter um. Er ist verschwunden. Dafür färbt sich jetzt der Himmel rot. Uta gefällt beides nicht. Vielleicht sollte sie sich wirklich beeilen.
Sie hat schon einen Fuß auf dem Pedal, da sieht sie ein paar Meter vor sich den Wächter. Uta erkennt ihn sofort. Es ist keiner der Wächter aus dem Bahnhof. Es ist einer dieser dämonischen Diener des Herrn, die das Böse fernhalten sollen von seinem Haus. Höllenbewohner. Schneiden Fratzen, halten Ausschau und speien Wasser. Gargouille, Gargoyle, Gurgler. Kein Sterblicher kommt in ihre Nähe. Am Boden hat Uta noch nie ein Exemplar gesehen. Brütend und benommen hockt das Geschöpf im Schatten eines Strebepfeilers. Eine verworfene Skizze der Natur. Wie ein Vogel, bei Gewitter aus dem Nest gefallen.
Uta schaut sich nach dem blauen Fuchs um, aber der ist verschwunden.
Ein Grollen rollt heran und über sie hinweg. Ruckartig hebt der Gurgler seine spitze Hundeschnauze, dreht den Kopf in alle Richtungen, nimmt Witterung auf. Das Ding peitscht seinen schlangenförmigen Schwanz, als wollte es ihn loswerden. Es knurrt und zeigt seine steinernen Zähne. Es ist riesig. Und es hat Angst. Es sollte nicht hier sein. Es will nicht hier sein. Es sucht den kürzesten Weg aus der Stadt.
Sie tritt zur Seite.
Darauf hat der Gurgler gewartet. Sofort stemmt er sich auf seine menschlichen Hände, schiebt sich mit seinen Hinterbeinen unbeholfen an ihr vorbei. Nicht dafür gemacht, sich auf flachem Boden zu bewegen. Uta kann jetzt sein Keuchen hören und das Knacken von Gelenken, die sich seit Jahrhunderten nicht bewegt haben. Seine Flügel zieht er hinter sich her wie eine Schleppe aus Leder. In plumpen Schüben kriecht er die Gasse hinauf.
Uta lässt das Fahrrad stehen und läuft die Gasse hinunter. Sie hat jetzt großen Durst, aber keine Eile mehr. Im Himmel über dem Marktplatz sind grüne und rote Lampions ausgehängt. Sie leuchten um die Wette und baden die ganze Szenerie in ein unwirkliches Licht. Im Luftschutzkeller unter dem Roten Storch gibt es fließendes Wasser. Aber der Zugang durch den Lieferschacht ist verschlossen, der ganze Platz menschenleer. Utas Blick fällt auf den Neptunbrunnen. Auf dem Rand sitzt der blaue Fuchs.
Er hat auf sie gewartet.
„Wenn ich im Kampfe für dich siege, willst du, dass ich dein Gatte sei?“, singt Clemens Jungheinrich. Er hört sich nicht, nur schwankende Vibrationen in seinem Schädel. „Elsa, soll ich dein Gatte heißen, soll Land und Leut’ ich schirmen dir, soll nichts mich wieder von dir reißen …“ Wahrscheinlich hat sich an seinem kräftigen Tenor nichts geändert. An die Melodie erinnert er sich gut genug, um sie zu treffen, wenn auch laut und schief, „… musst eines du geloben mir“, und deshalb singt er in seinem Büro erst am Abend, wenn die Sekretärin nach Hause gegangen ist.
Er schenkt sich einen weiteren Cognac ein und sagt „Gluck, gluck, gluck“ und „Klirr“, als er die Flasche zurück in den Schrank stellt. Er hebt das Glas und prostet der Fotografie an der Wand zu. Sein Vater schaut, wie immer, betreten beiseite und zur Daguerreotypie seines Großvaters hinüber. Im Regal all die Folianten und Romane und Breviers, die auf Qualitätspapier der Jungheinrich GmbH & Co. KG gedruckt worden sind seit Gründung des Unternehmens 1820. Ohne unser Papier kein Eichendorff. Und ohne unser Papier keine Handgranaten. Vielleicht war es ein Fehler, diesen Auftrag anzunehmen. Aber es war lukrativ und patriotisch. Als Geschäftsmann und Deutscher gibt es nichts, was er sich vorzuwerfen hätte. Vater hätte den Auftrag auch angenommen. Großvater sowieso.
„Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen …“, schmettert er fröhlich und setzt sich wieder an den Schreibtisch. Stellt das Glas ab, schüttelt die rechte Hand. Sie schmerzt schon seit Wochen, weil er mit diesem Füllfederhalter dort so viele Nachrichten schreibt.
Fortsetzung folgt
© Klett-Cotta, Stuttgart