Roman
Hier sieht der Hauptsturmführer Hansemann sich allmählich genötigt, eine andere Karte zu ziehen. Baut sich vor dem Hauptmann auf, der vorhin noch so lustig war, und stellt sich als Professor vor. Als Professor wird er jetzt in seinem Hospital gebraucht. Aber die Kanaille stellt auf stur, das sei ihm ganz egal, Befehl sei Befehl, das gelte für den Hauptsturmführer wie für den Professor gleichermaßen. Das wollen wir doch mal sehen, denkt Hansemann.
Am Ausgang hat der Hauptmann tatsächlich eine Wache postiert, nicht zu fassen. Hansemann greift in die Manteltasche. Da tritt das Milchgesicht schon zur Seite und gibt wortlos den Weg frei. Hansemann öffnet die Tür und springt ins Freie. „Viel Glück“, sagt der Soldat und schließt die Tür wieder. Na also, denkt Hansemann und marschiert über die Schienen auf die Stadt zu.
Wohlan! Schnell hat er den schlafenden Zug hinter sich gelassen. Dumpfes Brummen in der Luft. Ein stehender Ton, beinahe beruhigend. Er hat den Koffer vergessen, aber das ist jetzt egal. Er hat die Pistole. Rechts und links des Bahndamms nichts als Felder im Mondlicht. Über seinem Kopf die Sternschnuppe eines abgeschossenen Bombers.
Das Fahrrad ist verschwunden. Bei ihrer Ankunft hat Uta es zwischen den Dornenhecken abgelegt. An der gleichen Stelle wie immer. Aber das war vor zwei Tagen. Inzwischen hat es so stark geschneit, dass sie die Stelle in den Verwehungen am Eingang zum Silberstollen nicht mehr finden kann. Jedenfalls nicht auf Anhieb.
Ihre Hände sind rot vor Kälte und zerkratzt von Dornen, bis sie das Rad gefunden und freigelegt hat. Im Wald am Wolfsberg liegt der Schnee zu hoch, dort muss sie es noch tragen. Die Anstrengung hat sie durstig gemacht. Bei der Erlöserkirche könnte sie endlich aufsteigen. Sie hat schon einen Fuß auf dem Pedal, da sieht sie auf der Friedhofsmauer den blauen Fuchs. Uta hält inne.
Der blaue Fuchs sitzt reglos. Beobachtet Uta aus weißen Augen, winzig wie Murmeln. Wie einen wärmenden Muff hat er seinen buschigen Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. Seltsam schmal ist seine Statur. Wie die einer sehr zierlichen Katze, eher noch kleiner. Uta findet, dass der blaue Fuchs gar nicht wie ein Fuchs aussieht. Er sieht nicht einmal aus wie ein richtiges Tier. Oder wie überhaupt irgendwas, das es wirklich geben könnte. Uta spürt, dass sie die ganze Zeit schon lächelt.
„Was bist du denn für ein drolliges Kerlchen?“
Mit ihrem tiefen Stöhnen heben wieder einmal die Sirenen an: Was hat sie ihn satt, diesen vielstimmigen Choral vom Tod! Der blaue Fuchs hebt eine Pfote, leckt daran, steckt sie wieder hinter den Muff. Uta muss weiter, will ein letztes Mal zum Jagdschloss fahren. Unter dem Feldbett im chinesischen Teehaus liegt noch die Schatulle. All ihre Briefe! Theo wird sich wundern. Bis Einbruch der Dunkelheit wollte sie das erledigt haben. Jetzt dämmert es bereits.
Uta schiebt das Fahrrad an. Der blaue Fuchs springt von der Friedhofsmauer. Er kommt so geschmeidig über den Schnee, dass seine Pfoten darauf gar keine Spuren hinterlassen. Setzt sich neben das Vorderrad. So benimmt sich doch kein Fuchs!
„Willst du mich etwa begleiten, hm?“
Uta schiebt das Fahrrad langsam weiter.
Der blaue Fuchs will sie begleiten.
Nebeneinander überqueren sie den Kirchvorplatz. Am Eingang zum Bunker hat sich die halbe Nachbarschaft versammelt. Darunter Wehrmachtsoldaten auf Fronturlaub. Uta erkennt den Pfarrer Kruse, der den Hausherrn und Einweiser gibt. Daneben der eigentliche Luftschutzwart, händeklatschend: „Keine Bummelei! Wir schließen gleich!“
Uta beschleunigt ihren Schritt. Der blaue Fuchs hält mit.
Die Sirenen singen jetzt Vollalarm. Auf der Glockengasse kein Mensch mehr zu sehen. Am Germanischen Museum haben sich die schweren Splitterschutztüren schon geschlossen. Selbst wenn sie es wollte, wäre dort jetzt kein Reinkommen mehr. Uta wird klar, dass sie sich beeilen muss. Sie dürfte gar nicht mehr auf der Straße sein, von Amts wegen.
Fortsetzung folgt
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