Ein Zeichen des Wandels
Nicht einmal mehr die Hälfte aller Beschäftigten bundesweit arbeitet auf Grundlage eines Tarifvertrags. Auch sind immer weniger Betriebe tarifgebunden. Die Ursachen variieren.
Weniger als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland arbeitet heutzutage auf Grundlage eines Tarifvertrages. In den 1990er Jahren waren es im Westen noch drei Viertel und im Osten immerhin fast zwei Drittel. Seit 1996 sank die Branchentarifbindung laut dem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge ist nur noch jeder fünfte Betrieb tarifgebunden.
Für die IAB-Forscherin Susanne Kohaut liegt die Entwicklung vor allem an der Privatwirtschaft, in der die Branchentarifbindung anders als im öffentlichen Sektor abgenommen habe. Auch sind in den vergangenen Jahren vor allem Bereiche der Wirtschaft gewachsen, in denen Tarifverträge selten oder unüblich sind, wie Start-ups und der private Dienstleistungssektor. Dort und auch in bisher traditionell tarifgebundenen Branchen wie der Automobilindustrie ist ein Tarifvertrag heute kein Automatismus, wie der US-Autobauer Tesla zeigt.
Nach einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sind die Gründe für den Rückgang der Tarifbindung „vielfältig und nicht abschließend geklärt“. Der Wandel weg von starken Industriesektoren, wie etwa Kohle, sowie Umstrukturierungen in Unternehmen und Branchen falle ins Gewicht. Zu kleineren Betrieben hätten Gewerkschaften schwerer Zugang.
Ebenfalls werden die sogenannten OT-Mitgliedschaften als möglicher Faktor genannt. Immer mehr Arbeitgeber sind generell nicht mehr Mitglied in Arbeitgeberverbänden oder machen häufiger Gebrauch von einer Mitgliedschaft ohne Tarifvertrag (OT). Die Rechtsprechung hat dies als zulässige Gestaltung der Koalitionsfreiheit bestätigt. Kritisch sehen einige Experten es dennoch: „Sie nutzen die Vorteile eines Verbandes, ohne sich einem Tarifvertrag zu unterwerfen“, kritisiert Johanna Wenckebach von der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Arbeitgeberseite hingegen moniert oft, dass das Tarifrecht nicht flexibel genug sei. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände beispielsweise sagt, dass zu viele Tarifverträge nicht auf besondere wirtschaftliche Situationen zugeschnitten seien. Das kann allerdings durch mehr Öffnungsklauseln in Tarifverträgen aufgefangen werden – deren Aushandlung aber ist Sache der Tarifvertragsparteien ist und nicht des Gesetzgebers, betonen die Wissenschaftlichen Dienste.