Roman
Aus den bisherigen Treffen hatte sie abgeleitet, Davis sei kein Freund von Fisch, um jetzt zu hören, wie er neben einem Wasser und einem leichten Weißwein die Ravioli di Astice bestellte – mit Hummer gefüllte Ravioli.
Er war, wurde ihr bewusst, nicht zu greifen. Buchstäblich nichts an ihm wiederholte sich, alles war einer ständigen Veränderung unterworfen.
Als passte er sich mit traumwandlerischer Präzision an die jeweilige Situation an. Wie ein Chamäleon.
Auch diese Traurigkeit, die heute in seinen Gesten lag, in seinem Blick, der abhandengekommenen Leichtigkeit seiner Bewegungen. Ganz dezent hatte sie von seinem Wesen Besitz ergriffen. Im Blick, in den Augenbrauen, in der Art, wie er die Speisekarte angefasst hatte. Sienna hätte es nicht konkret an etwas festmachen können, aber sie spürte seine Schwermut. Eine jener hilflosen Art, die etwas Unbezwingbarem galt, der Schlechtigkeit der Welt etwa, obwohl Sienna sich sicher war, dass Davis’ Traurigkeit nicht ihr galt. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe“, sagte er, „aber sind Sie von hier? Sind Sie New Yorkerin?“
Kontaktaufnahme.
Sienna schenkte ihm ein freundliches Lächeln: „Ja. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich hoffe. Ich möchte die Frick Collection besuchen.“
„Das ist gar nicht weit von hier. Genauer gesagt: Ecke 70th Street und Fifth Avenue.“
„Denken Sie, es lohnt sich?“
Ist Ihnen jemand gefolgt?
„Ja“, antwortete Sienna White und unterstrich ihre Worte mit einem Nicken, „ich bin überzeugt, es ist einen Besuch wert.“
Nein, mir ist niemand gefolgt.
Sie bestellte beim Kellner einen Espresso und die Rechnung. Beim Griff nach ihrer Handtasche schob sie die Ausgabe der New York Times beiläufig ein Stück von sich weg und in seine Richtung.
Der Kellner kam zurück und legte ihr den ausgedruckten Beleg auf den Tisch: „42,50.“
Sienna gab ihm 50 Dollar: „Stimmt so.“
„Danke.“
Keine Karte. Keine digitalen Spuren.
Davis’ Anweisung. Von Anfang an. Strikt.
Keine Spur im Netz. Nirgends. Nie.
Deswegen oldschool: via Zeitung.
Der Kellner wandte ihnen den Rücken und sich einem anderen Gast zu.
Sienna stand daraufhin ohne Hast auf und Davis registrierte, wie sie mit ihrem Körper dabei die mögliche Blickachse des Kellners oder anderer Gäste auf ihre New York Times geschickt versperrte, die Davis nun an sich nahm.
„Die Collection hat noch zwei Stunden geöffnet. Aber wenn Sie es nicht schaffen: Sie öffnet morgen wieder um neun Uhr.“
„Vielen Dank, aber ich versuche es heute noch, ich fürchte, es kommt bald schwerer Sturm auf.“
Es wird einen Krieg geben.
Sie wollte nicht, aber Sienna schluckte leer. Das Lächeln durchzuhalten, fiel ihr schwer und so wurde es erst angestrengt und dann hölzern. Sie schaute ihm in die grauen Augen, um herauszufinden, ob sie sich verhört hatte. Hatte sie nicht: Davis deutete ein Nicken an und seine Miene war ernst.
Sofort stürzten die Fragen auf sie ein: Wann? Wer? Wo? Warum?
Aber natürlich durfte ihr keine davon über die Lippen kommen.
„Vielleicht kommt der Sturm ja auch nicht“, fügte Davis hinzu, doch Sienna erkannte, dass er mit diesen Worten lediglich seine schützende Hand über sie legte, um sie nicht zu beunruhigen. Wie nach Timothys Tod.
Der irgendwelchen Regierungsstellen in Washington auf einer seiner Geschäftsreisen in den Nahen Osten einen Gefallen erwiesen hatte. Welchen, darüber hatte er sich ausgeschwiegen. Seine Leiche wurde drei Tage später am Wüstenrand gefunden. Eine Frau erschien bei ihr zu Hause, die wie die beiden Brüder hieß, die den Film „Fargo“ gemacht hatten, Coen. Sie überbrachte ihr behutsam und mitfühlend die Nachricht von Timothys Tod. Und berichtete ihr von einem tragischen Unfall mit Fahrerflucht.
Da trat Jack Davis in ihr Leben. Mit einem Foto von Timothy, das die Erzählung von einem Unfall als Lüge entlarvte.
Fortsetzung folgt
© Kiepenheuer & Witsch, Köln