„Orte der Begegnung fehlen“
Demokratie Dr. Rainald Manthe plädiert in Hall dafür, dass es mehr Orte des Zusammentreffens geben muss. Ohne Begegnungen würde Demokratie nicht funktionieren.
Rainald Manthe ist auf Einladung der Katholischen Erwachsenenbildung in Kooperation mit dem Evangelischen Kreisbildungswerk und der Secontique in Hall. In dem gemeinnützigen Secondhand-Laden hält er einen Vortrag.
Ihr Buch heißt „Demokratie fehlt Begegnung“. Warum haben Sie es geschrieben?
Rainald Manthe: Nach der Promotion und dem ersten Buch habe ich gedacht: Das Thema Begegnung, mit dem sich beides beschäftigte, ist für mich erstmal abgehakt. Dann kam die Corona-Pandemie.
Und es war Schluss mit Begegnungen.
Bereits im März oder April 2020 habe ich gedacht: Diese alltäglichen kleinen Begegnungen, die man so hat, in der Bahn, auf der Straße, im Café, die haben, viel mehr mit Demokratie zu tun, als ich dachte. Ich war natürlich fixiert auf diese Betrachtung der Begegnungen aus meiner Dissertation. Während der Pandemie war ja alles erstmal weg. Man war sehr zurückgeworfen auf sein privates Umfeld.
War die Pandemie eine ungewollte Laborsituation?
Naja, sie war zumindest ein Auslöser, um über fehlende Begegnungen nachzudenken. Ich habe recherchiert, wie sich die Begegnungsorte in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entwickelt haben.
Wie lautet das Ergebnis?
Eine Schwierigkeit ist die Datenlage. Es gibt viele Zahlen zu Ärzten, Bibliotheken oder Schwimmbädern. Aber dann hört es schon fast auf. Über Cafés, Bars, Kneipen weiß man auch ein bisschen etwas. Fast alle dieser Orte der Begegnung, über die man Daten findet, sind weniger geworden in den letzten Jahrzehnten. Das ist keine Entwicklung, die mit Corona anfing, sondern die weit vorher begann.
Welche Orte würden Sie als Stätten der Begegnung definieren?
Alle Orte, an denen man analog aufeinandertrifft. Also, wo man sich so nahekommt, dass man sich wahrnimmt, wo man vielleicht Mimik und Gestik von dem anderen erkennt und man gemeinsam einen Raum teilt.
Also auch in einem Zug?
Das Großraumabteil ist so ein Ort, der Bahnsteig auch. Wichtig ist, dass man die Leute noch wahrnehmen kann. Bei 100 Metern hört es dann irgendwann auf, wenn der Raum sehr voll ist. Aber auch zum Beispiel der Arbeitsplatz und viele andere Locations zähle ich dazu.
Warum sind Sie sich so sicher, dass die Anzahl der Orte der Begegnung abgenommen hat?
Was mir in Bezug auf die Demokratie bei der Begegnung fehlt, ist nicht allein, dass man weniger Leute trifft. Es geht darum, dass die Menschen in Deutschland mit weniger Menschen zusammenkommen, die anders sind als sie selbst: reich, arm, alt, jung, zugewandert oder eben hier geboren. Die Orte, an denen diese allgemeine Begegnung stattfindet, sind weniger geworden. Die Leute bleiben eher nur in ihrem Umfeld.
Was hat diese Begegnung mit Demokratie zu tun?
Ich glaube, eine ganze Menge. Demokratie basiert ja darauf, dass man die Anderen, die Unbekannten, als legitime Mitglieder der Gesellschaft betrachtet. Als „legitime Andere“ würde man das soziologisch nennen. Und das ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Das sagen uns alle großen Vertrauensstudien und Untersuchungen zum sozialen Zusammenhalt. Die Menschen vertrauen einander weniger in Deutschland. Und Vertrauen baut sich in Begegnungen, also in analoger Begegnung, einfach leichter auf.
Sind dafür nicht die Parteien da?
Wenn die Parteien breit gesellschaftlich anschlussfähig wären, wäre das vielleicht so. Aber Parteien laufen die Mitglieder davon. Die sind bei Weitem nicht einmal für die Milieus, die sie repräsentieren wollen, repräsentativ. Und dann bündeln sie natürlich die Meinung von wenigen. Es entsteht eine riesige Repräsentationslücke für all die Menschen, die eben nicht in Parteien organisiert sind, die auch Medien und Interessenvertretungen nicht zu schließen vermögen.
Debatten über Corona-Maßnahmen, Energiewende oder Russlands-Angriffskrieg: Quer über viele Themenbereiche scheint Deutschland nach dem Vorbild Amerikas in zwei Lager gespalten zu sein. Kann es da überhaupt einen produktiven Meinungsaustausch geben?
Diese These stimmt so gar nicht, wenn man sich die Daten anschaut. Dann sind die entgegengesetzten Lager klein, aber laut. Also ich glaube, auf der links-grünen Seite sind es 17 Prozent, auf der eher rechten Seite 13 Prozent. Und dazwischen gibt es eine ganz große Mitte. Die große Mehrheit der Menschen in der Mitte ist sich relativ einig. Sie haben eine recht moderate Haltung zu fast allen großen Themen. Aber die findet wenig statt im öffentlichen Diskurs und fehlt auch im Privaten. Das kann man zum Beispiel bei Steffen Mau im Buch „Triggerpunkte“ nachlesen. Diese Befürchtung, die deutsche Gesellschaft sei wahnsinnig polarisiert, wird meiner Ansicht nach medial geprägt.
Ist es aber nicht ein wenig naiv zu glauben: Wenn sich jetzt Menschen zufällig im Foyer der Stadtbibliothek treffen, fördern sie automatisch unsere Demokratie?
Das würde ich ja gar nicht behaupten. Ich würde sagen, es braucht ganz viele Begegnungen, damit die Menschen wieder stärker Vertrauen finden. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft lösungsfähig ist, auch wenn die Krisen von außen nicht aufhören. Sie müssen die anderen als legitime Gesellschaftsmitglieder wahrnehmen.
Warum?
Wenn ich den anderen vertrauen kann, dass sie sich halbwegs – außer vielleicht ein paar Ausnahmen – an die Regeln halten, dann erhöhe ich auch meine Motivation, mich an Regeln zu halten. Vielleicht können diese Menschen auf dieser Basis sogar einen noch besseren Kompromiss finden, weil sie weniger egoistisch entscheiden.
Ist auch der digitale Raum ein Ort dieser Art der Begegnung?
Ich würde sagen: Nein. Ich würde eher behaupten, dass dies alles nur in einem analogen Begegnungsort möglich ist. Mimik und Gestik ist in digitalen Räumen nur sehr begrenzt darzustellen und man kommt dort nur gezielt zusammen, selten zufällig.
Man tauscht sich über Politik aus, findet aus gegensätzlichen Argumenten eine gemeinsame neue Lösung: Wie stellen Sie sich denn so eine Begegnung idealtypisch vor?
Ich glaube, es braucht ganz viele verschiedene Begegnungen und nicht einen Idealtyp. Ein guter Begegnungsort erfüllt seine Funktion, wenn er eine angenehme Aufenthaltsqualität bietet. Ich glaube, gute Begegnungsorte sind die, wo die allermeisten zusammenkommen können und nicht müssen. Die Begegnung selber ist im Idealfall eine Begegnung aus Menschen, die verschiedener Meinung sind. Oder die verschieden sind. Jeder hat eine andere Meinung, wenn man tief genug bohrt. Mir geht es um das Wahrnehmen der anderen Lebensrealitäten, die man dann als eine legitime Art anerkennt. Meinungsaustausch kann eine Möglichkeit sein bei einer solchen Begegnung. Es kann aber auch sein, dass man in die Bahn steigt und der Manager schubst einen in seinem schicken Anzug zur Seite und der Wohnungsdose ist freundlich und wünscht einem einen schönen Tag. Das irritiert und rückt die Stereotype ein bisschen zurecht.
Ist der Umkehrschluss zulässig: Wenn Orte der Begegnung fehlen, ist die Demokratie in Gefahr?
Es kommt ein bisschen auf die Situation an, in der die Demokratie steht. Ich glaube, heute ist es ein Problem, dass Orte der Begegnung fehlen. Das war vor 20 Jahren vielleicht nicht so. Vor 20 Jahren war die Demokratie nicht so angegriffen von externen Schocks. Polarisierungsunternehmer gehen in jede noch so kleine Spaltung rein und bedienen die. Das können auch externe Staaten sein, die Risse über soziale Medien verstärken. Gleichzeitig haben wir eine Gesellschaft, die einfach unter Stress steht. Die Krisen hören nicht auf. Die Menschen merken es im eigenen Geldbeutel, im eigenen Leben, dass da immer mehr kommt. Sie haben keine Möglichkeit, sich an das neue Normal zu gewöhnen. Und das führt natürlich zu einem Rückzug auf die eigene Sicht. Und Begegnungen und Kommunikation könnte dann quasi ein gegenläufiges Werkzeug sein, um den Zusammenhalt zu stärken.
Das heißt, man braucht engagierte Leute aus der Zivilbevölkerung?
Naja, es braucht, glaube ich, Kooperation zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Wirtschaft sollte man nicht rauslassen. Auch die Wirtschaft sucht ihre Rolle in der Demokratie, hat oft Kompetenzen, was Projektmanagement und anderes angeht, hat ein bisschen Geld, was leichter auszugeben ist als staatliches Geld und hat natürlich Flächen.
Sie sind kein Untergangsprophet?
Ich habe nicht so diese Verfallsdiagnose, weil ich merke, da gibt es ganz viele Menschen, die gestalten vor Orte und nennen es vielleicht nicht Demokratie, sie nennen es vielleicht Nachbarschaft oder Zusammenleben oder irgendwie anders. Aber es ist ein Stück Demokratie. Und das macht mich total hoffnungsvoll, was die Demokratie angeht.
Menschen in Deutschland kommen mit weniger Menschen zusammen, die anders sind.
Vor 20 Jahren war die Demokratie nicht so angegriffen von externen Schocks.