Unumkehrbarer Wandel
Katholiken und Protestanten verlieren weiter Mitglieder – Austritte und schwindende Religiosität führen zu leeren Kirchen und finanziellen Engpässen.
Seit Jahren beklagen die beiden christlichen Konfessionen in Deutschland teilweise drastische Einbußen an Mitgliedern. Auch im letzten Jahr verloren Katholiken und Protestanten zusammen über eine Million Gläubige, durch Sterbefälle und Austritte. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) zählte Ende 2024 noch 19,7 Millionen Kirchenmitglieder, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 18,6 Millionen. An Austritten verzeichnete die DBK im vergangenen Jahr 321.611 Fälle, die EKD 345.000. Den bisherigen Höchststand an Austritten verzeichnete die katholische Statistik im Jahr 2022 mit mehr als 520.000.
Auch wenn die Austrittswelle zahlenmäßig etwas abgebremst erscheint, ist der langfristige Trend wohl ebenso unvermeidbar wie nicht reparabel. Eine Gruppe von Ökonomen um den Freiburger Professor Bernd Raffelhüschen prognostizierte schon 2019, dass sich die Quote der christlichen Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2060 von heute rund 45 Prozent auf nur noch etwas mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung verringern wird. Inzwischen gehen die Experten davon aus, dass diese Marke bereits 20 Jahre früher erreicht wird.
Verloren gegangenes Vertrauen
Die Gründe für den Massenexodus von Katholiken und Protestanten sind vielfältig. Missbrauchsskandale und das Amtsverständnis hoher Repräsentanten beider Kirchen haben zu einem Vertrauensverlust in die Institutionen geführt. Eine Studie zeigte im November 2023 auf, dass Religiosität in der Bevölkerung schwindet: Die Mehrheit der Deutschen, 56 Prozent, bezeichnet sich als nicht mehr religiös, weitere 15 Prozent nennen sich „wenig religiös“. Der Religionssoziologe Detlef Pollack konstatiert hier einen „Traditionsabbruch“. Hinzu kommen gesellschaftliche Entwicklungen wie Entsolidarisierung und Vereinzelung, die auch anderen Massenorganisationen (Parteien, Gewerkschaften) zu schaffen machen.
Die Verantwortlichen wissen, was die Kirchturmglocken geschlagen haben. Der Vorsitzende der DBK, der Limburger Bischof Georg Bätzing, räumt ein: „Wir dürfen vor diesen Zahlen nicht die Augen verschließen. Sie fordern uns heraus, neu zu fragen: Für wen sind wir als Kirche da?“
Andererseits sieht die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs nicht gänzlich schwarz: „Unsere Gesellschaft ist mehr denn je darauf angewiesen, dass sich Menschen zivilgesellschaftlich engagieren – auch in Kirche und Diakonie.“ Betätigungsfelder für Gläubige würden in einer alternden Wohnbevölkerung zwangsläufig in ehrenamtlicher Betreuung und Pflege entstehen. Auch Georg Bätzing wirbt dafür, „Zukunftsfelder zu identifizieren, die nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen sind – besonders an jungen Menschen und Familien“.
Doch attraktive Angebote der Kirchen an potenzielle Neumitglieder sind nur die eine Seite der Medaille. Die akute Folge des drastischen Rückgangs von Gemeindemitgliedern sind sinkende Einnahmen durch ausbleibende Kirchensteuern und reduzierte Spendenaufkommen sowie leer stehende Gotteshäuser. Es fehlt an Geldern für Personal und Liegenschaften. Auch politisch droht den Kirchen Ungemach: Die vorherige Bundesregierung beabsichtigte, die Zuflüsse staatlicher Subventionen für Katholiken und Protestanten stark einzuschränken. Geschehen ist das zwar nicht, aber das Thema bleibt wohl auf der Tagesordnung.
Zugleich müssen die Kirchen mit einem wachsenden Leerstand ihrer Sakralbauten umgehen, weil Pfarreien aufgelöst, Gemeinden zusammengelegt werden. In den vergangenen 20 Jahren sind gut 30 Prozent der „Kirchenstandorte“ beider christlicher Konfessionen geschlossen worden. Von den 44.400 Kirchengebäuden bundesweit stehen 95 Prozent der katholischen und 83 Prozent der evangelischen unter Denkmalschutz. Hinzu kommen Pfarrhäuser, Gemeindezentren und Klöster, die den konfessionellen Immobilienbestand auf fast 100.000 Objekte erhöhen. Bei den Kirchen gehen Fachleute davon aus, dass jede dritte auch langfristig ausschließlich liturgisch genutzt wird, ein Drittel in kirchlicher Teilverantwortung bleibt, der Rest an andere Nutzer oder Träger abgegeben werden muss. Sogar der Abriss einzelner Gebäude wird nicht mehr ausgeschlossen, soll aber die Ausnahme bleiben.
Auf keinen Fall ein Sexshop
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch geht von „tiefen Einschnitten in den Immobilienbestand“ der Katholiken in der Hauptstadtregion aus. Sein protestantischer Kollege, Bischof Christian Stäblein, steht vor ähnlichen Problemen in Berlin, Brandenburg und der Oberlausitz. Beide Kirchen haben unterdessen eigene Immobilienportale eingerichtet, die den Verkauf oder die Verpachtung von Kirchen, Gemeinderäumen, aber auch bebaubarer Grundstücke offerieren. Allerdings sind andere Nutzungen oder Umwidmungen von sakralen Gebäuden an strikte Auflagen von Denkmalschutz und Baugesetzbuch gebunden – und auch die Kirchenoberen haben da sehr spezielle Vorbehalte.
So schloss der ehemalige Bamberger Erzbischof Ludwig Schick vor Jahren kategorisch aus, dass in eines seiner leerstehenden Gotteshäuser ein „Sexshop“ einziehen könne. Einvernehmen unter den Amtsträgern besteht offenbar ebenso, dass keine anderen Religionen die Kirchen nutzen und auch nicht mehr oder weniger seriöse „Clubs“ die Räumlichkeiten mieten. Dennoch bleibt das Spektrum der möglichen Alternativen breit. Auf dem 31. Kirchbautag der EKD in Berlin diskutierten Experten jüngst drei Tage lang darüber, wie mit Leerstand und Neunutzung von Kirchengebäuden umgegangen werden soll.
Die Palette der Ideen und Vorschläge reichte von Bibliotheken, Volkshochschulen und Museen über Jugendherbergen, Hotels und Cafes, Kinos, Konzertsälen, Theatern und Eventlocations bis zu Arztpraxen, Fitness-Studios und Turnhallen. Auch zu Co-Working-Areas oder Wohnungen ließen sich Kirchenschiffe umbauen, erklärten Architekten.
Mit vielen dieser Anregungen könnte sich die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs wohl anfreunden, denn für die Hamburger Bischöfin waren „Kirchen immer Gebäude der ganzen Stadt“, „öffentliche Orte der Bürgergemeinde“. Daher wolle sie bei den jetzt anstehenden Debatten „nicht dem Vergangenen hinterhertrauern, sondern beherzt in die Zukunft blicken“.