Absturz in den MINT-Fächern
IQB-Bildungstrend Jugendliche können immer schlechter Aufgaben in Mathe, Physik, Chemie und Bio lösen. Wo liegen die Ursachen?
Pisa, Iglu, Vera: Seit mehr als zehn Jahren halten verschiedene Bildungsstudien fest, dass die Schülerleistungen in Deutschland zurückgehen. Die neue Studie „IQB-Bildungstrend“ zeigt die Entwicklung seit 2012.
Worum geht es? Der IQB-Bildungstrend 2024 untersucht bundesweit die Kompetenzen von Neuntklässlern in Mathematik sowie in den naturwissenschaftlichen Fächern Biologie, Chemie und Physik. Die Studie wird in regelmäßigen Abständen vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität durchgeführt, einer wissenschaftlichen Einrichtung aller 16 Bundesländer. Sie basiert auf den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz und ermöglicht mit den Erhebungsjahren 2012, 2018 und 2024 eine Trendanalyse über mehr als ein Jahrzehnt.
Was sind die wichtigsten Befunde? Die Ergebnisse fielen „wenig erfreulich“ aus, heißt es in der Studie. „In allen vier untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als in den Jahren 2012 und 2018.“ Die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen der getesteten Neuntklässler verschlechterten sich in ganz Deutschland: Der Anteil der Jugendlichen, die die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss verfehlen, stieg etwa in Mathematik auf knapp 24 Prozent, während der Anteil derjenigen, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, deutlich sank. Ähnlich negative Trends zeigen sich in Biologie, Chemie und Physik. Die Durchschnittsleistungen liegen in allen Fächern deutlich unter den Ergebnissen von 2018. Dabei bestehen weiter große soziale, geschlechtsbezogene und zuwanderungsbezogene Unterschiede.
Wie ist die Lage in Baden-Württemberg? Die Leistungsunterschiede zwischen den Bundesländern sind groß – mit besseren Ergebnissen vor allem in Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg und unterdurchschnittlichen Leistungen etwa in Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Baden-Württemberg liegt in allen untersuchten Fächern und Kompetenzbereichen messbar über dem Bundesschnitt. Doch auch hier zeigt sich ein deutlicher Rückgang der Kompetenzen im Vergleich zu 2018, und damals gab es schon einen Absturz verglichen mit 2012. Die Durchschnittsleistungen sanken, der Anteil der Jugendlichen, die Mindeststandards nicht erreichen, stieg.
Was sind sonst noch wichtige Befunde? Es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Jungen schnitten etwa in Mathematik besser ab, während Mädchen in Biologie einen Vorsprung erzielten. Soziale und zuwanderungsbezogene Ungleichheiten blieben auf hohem Niveau stabil. Jugendliche aus sozial schwächeren oder zugewanderten Familien schnitten schlechter ab. Zudem ist das fachbezogene Interesse der Jugendlichen gering und weiter rückläufig, ebenso wie das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Gut ein Drittel schätzt die eigenen Fähigkeiten als gering ein, mehr als die Hälfte zeigt wenig Interesse an diesen Fächern. Die Studie zeigt, dass die negativen Trends nicht allein auf eine veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft zurückzuführen sind, sondern auf eine breitere Verschlechterung der Bildungsleistungen hinweisen.
Wo liegen die Ursachen? Die Studie verweist auf ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Als ein möglicher Erklärungsfaktor werden die Einschränkungen des Schulbetriebs während der Corona-Pandemie genannt: Die Jahre 2018 bis 2024 umfassen die Pandemiezeit, in der Unterricht phasenweise ausfiel oder in Distanz stattfand. Die getesteten Jugendlichen waren zu Beginn der Pandemie gerade ein halbes Jahr in der fünften Klasse. „Dass sie durch die Pandemie aus diesem für sie noch recht neuen Alltag herausgerissen wurden, dürfte für viele von ihnen ein großer Einschnitt gewesen sein. Dieser könnte ihre Entwicklung stark beeinträchtigt haben und auch noch vier Jahre später nachwirken.“
Welche Rolle spielt das Thema Zuwanderung? In allen Fächern haben Schüler aus zugewanderten Familien signifikant geringere Kompetenzen. In der ersten Zuwanderungsgeneration ist das besonders stark ausgeprägt. Doch obwohl der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Untersuchungszeitraum gestiegen ist, erklärt dies laut IQB nur einen kleinen Teil der Kompetenzrückgänge. Diese seien auch unabhängig vom Migrationsgeschehen. Zudem ließen sich zuwanderungsbezogene Disparitäten zu einem bedeutsamen Anteil auf das durchschnittlich geringere sozioökonomische und kulturelle Kapital der Familien von Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund zurückführen. Lehrer weisen aber darauf hin, dass auch Schüler getestet wurden, die erst seit rund einem Jahr Regelklassen besuchten. Dass diese die Aufgaben sprachlich so gut verstehen wie Muttersprachler, sei unwahrscheinlich.
Wie kann die Lage verbessert werden? Die Autoren der Studie halten sich mit konkreten Ratschlägen zurück, nennen aber doch Ansatzpunkte: Sie empfehlen, den Fokus stärker auf die Förderung grundlegender mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenzen zu legen, damit mehr Schüler Basiskompetenzen erreichen. Zudem gehe es um gezielte Sprachförderung, eine Verbesserung der Unterrichtsqualität und Maßnahmen zur Stärkung sozial benachteiligter Kinder. Eine Umkehr der negativen Trends könne jedoch nicht allein durch die Schule erreicht werden, auch Familien, Kitas und beispielsweise die Kommunalpolitik müssten ihren Teil beitragen. „Nur durch ein abgestimmtes Zusammenwirken aller Beteiligten können die Lern- und Entwicklungsziele für Kinder und Jugendliche in Deutschland nachhaltig gesichert werden.“