„Fliegt!“

  • Plötzlich steht wieder alles in Frage: Choreograph Toni Candeloro wertet die Generalprobe der „Carmina Burana“ des Kosovo National Balet in der amc-hall aus. Sascha Montag
  • Aufwärmübungen: Das Kosovo National Balet will in der Hauptstadt Pristina mit dem Stück „Carmina Burana“ glänzen. Sascha Montag
  • Augenblick der Ruhe: Eine Tänzerin bei ihrer Vorbereitung auf die Proben. Sascha Montag

Das Nationalballett des Kosovo ist mehr als nur ein Hort der Künste – es steht symbolisch für die Hoffnungen und die nationale Identität des jungen Landes. Eine Aufführung der „Carmina Burana“ zeigt das Engagement der Tänzer im Angesicht einer fragilen gesellschaftlichen Lage.

Die stampfende Pauke treibt den Chor an. „Schicksal, ungeschlacht und eitel“, schallt es aus über einhundert Kehlen. Auf der Bühne schreiten die Tänzer aufeinander zu. Die Streicher und Hörner steigern das Tempo der Musik. Der mächtige Chor klingt verzweifelter: „Rad, du rollendes! Schlimm dein Wesen!“ Es sind die intensivsten Momente im Lied zu Ehren der Schicksalsgöttin Fortuna. Das Finale der Aufführung.

Die Mitglieder des Balletts bilden nun einen Pulk, einige Männer beugen sich nach vorn, ihre Rücken bilden eine Rampe. Darauf strebt eine Tänzerin nach oben, Leonora Rexhepi. Gehalten von zwei Männern schwebt sie scheinbar empor, bis sie auf den Schultern eines Tänzers zum Stehen kommt. Die Arme reckt Rexhepi zur Decke der Konzerthalle, ihr Blick scheint etwas zu sehen. Das Orchester ist bei einem letzten langen, kraftvollen Ton angekommen.

Unzählige Male haben die Künstler diese Szene geprobt. Der Choreograph im Zuschauerraum flüstert: „Du hast dem Schicksal getrotzt und bist auferstanden.“ Dann bricht die Musik abrupt ab. Im Publikum brandet Jubel auf.

So endet die Premiere der „Carmina Burana“ im Kosovo. Es ist die größte Aufführung klassischer Musik in der noch jungen Geschichte des Landes. 400 Künstler stehen auf und vor der Bühne. „Frieden und Harmonie triumphieren“, verkünden am Tag darauf die nationalen Medien.

„Carmina Burana“ im Kosovo ist mehr als ein Konzerterlebnis. Die Tänzer des Nationalballetts ließen sich in den Tagen vor der Premiere begleiten. Sie sprachen oft über Verantwortung und Stärke. Viele Mitglieder des Ensembles gehören einer Generation an, die als Kinder Krieg erlebt haben oder mit ihren Eltern davor geflüchtet sind. Nun sind sie zurück – und tanzen um Anerkennung. Dieser Abend voller Kunst ist in unsicheren Zeiten ein Symbol für ein selbstbewusstes, eigenständiges Kosovo. Ein Statement mit Geigen und Ballettschuhen.

Noch vier Tage bis zur Premiere

„Mama mia, ragazzi!“ Toni Candeloro schaut fassungslos auf seine Tänzer. „Was ist denn passiert? Habt ihr alles vergessen?“ Einer wagt eine Antwort: „Ich glaube, einige wissen nicht, auf welchen Takt der Sprung kommt.“ Candeloro schüttelt den Kopf: „Es ist eine Schande, das zu sagen. Wo seid ihr denn alle im vergangenen Monat gewesen?“ Auf diese Frage folgt nur Schweigen. Dann sagt Candeloro: „Also noch einmal auf Position. Und Musik ab.“

Eigens für die Aufführung der „Carmina Burana“ hat das Nationalballett Kosovo einen Choreographen aus dem Ausland engagiert: Toni Candeloro. In den 1980ern und 1990ern tanzte der Italiener auf den Bühnen der Welt: Verona, Rio de Janeiro, Moskau. Heute arbeitet er hauptsächlich als Choreograph. In den Kosovo, sagt er selbst, habe er sich bei einem Engagement vor wenigen Jahren verliebt. „Diese Leute haben die Kunst im Blut.“

Dreieinhalb Monate bekam Candeloro Zeit, um mit der Truppe ein einstündiges Programm auf die Beine zu stellen. Toni Candeloro hat den aufrechten Gang eines Athleten und die wirren Locken eines Künstlers. Er kann streng sein, auch wenn bei allen schon die Nerven blank liegen. Aber fast immer ruft dann ein Tänzer: „Toni, wir lieben dich!“ Und dann lächelt Candeloro breit und schickt ein paar Luftküsse in die Runde.

Sein nomadisches Künstlerleben hat den Choreographen in ein Land geführt, das eine bewegte jüngere Geschichte hinter sich hat. Zunächst herrschte Ende der 1990er Jahre Krieg, dann erklärte sich der Kosovo im Februar 2008 für unabhängig. Zwar haben weltweit inzwischen 117 Staaten den Kosovo anerkannt, der Konflikt mit dem Nachbarn Serbien schwelt allerdings weiter. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen und Schusswechseln an der Grenze. Schon länger warnen Experten vor einer erneuten Eskalation auf dem Balkan.

Ein Nationalballett in so einem Staat ist nicht mit Ensembles aus anderen europäischen Ländern zu vergleichen. Die Probleme des Kosovo sind auch die Probleme der Tänzer: zu wenig Geld, alles ist etwas zu klein, zu viel ist improvisiert. Die 26 Mitglieder des Nationalballetts verdienen 500 bis 850 Euro im Monat, abhängig von ihrem Rang in der Truppe. Die meisten verdienen sich etwas dazu, indem sie Kinder und Jugendliche im Ballett unterrichten. Sie haben keine eigene Bühne, geschweige denn einen eigenen Probenraum. Das Nationaltheater in der Hauptstadt Pristina wird seit Mitte 2022 renoviert, doch niemand weiß, ob und wann das Haus wieder eröffnen wird. Also übt das Ballett in den Räumen der Volkstanzgruppe Shota. Die Folkloretruppe ist vormittags dran, die Balletttänzer am Nachmittag.

In diesem schmucklosen Raum mit schwarzen langen Vorhängen probt die Gruppe auch an diesem Tag. Schweres Atmen ist zu hören, dazwischen die Rufe von Toni Candeloro: „Fliegt!“ „Langsam jetzt!“ „Nicht so viele Manierismen, sei du selbst!“ Am Ende der Probe versammeln sich die Tänzer um den Choreographen. Bei allen fließt der Schweiß, auch bei Candeloro. Er redet beschwörend auf die Männer und Frauen ein: „Das hier ist kein Hobby, das ist Profession. Wir brauchen Qualität.“ Er wiederholt das letzte Wort noch einige Male. Auch Candeloro weiß, dass dieses Nationalballett eine besondere Aufgabe hat: Es soll Vergewisserung sein. Wenn das Ballett glänzt, dann glänzt auch der Staat Kosovo.

Noch drei Tage bis zur Premiere

Sead Vuniqi wohnte in Düsseldorf und verehrte Michael Jackson. Der Junge, der mit seinen Eltern vor dem Krieg auf dem Balkan in das Rheinland geflüchtet war, tanzte vor dem Spiegel wie der Popstar. Er war auch gut in Mathematik und spielte Fußball. Die Eltern hofften, dass ein Architekt aus ihm werden würde.

Als die Familie in den Kosovo zurückkehrte, war Sead Vuniqi zehn Jahre alt. Er meldete sich in der Musikschule von Pristina an, allerdings waren alle Kurse schon voll, bis auf einen. Der Leiter der Musikschule sagte ihm, es gebe nur einen Weg, an die Schule zu kommen: Ballett. Und als er sah, dass dieser junge Bewerber sein Bein bis neben den Kopf heben konnte, sagte er ihm, er müsse mit Fußball aufhören. So begann Sead Vuniqis Ballett-Karriere.

Wenn es heute im Nationalballett einen Meistertänzer gibt, dann ist das Vuniqi. Er erzählt selbst, bei der letzten Aufführung des Nussknackers habe ihn der Choreograph für mehrere Soli besetzt. Niemand außer ihm sei in der Lage gewesen, die anspruchsvollen Passagen zu tanzen. Sead Vuniqi entwickelt eigene Stücke. Er ist nun 35 Jahre alt, und manchmal scheint es so, als sei das Nationalballett des Kosovo für ihn zu klein geworden. Aber auch er nickt ernst und zurückhaltend, wenn Toni Candeloro spricht. Eine Stunde haben die Tänzer an diesem Nachmittag an der Szene für „O Fortuna“ geprobt, Auftakt und Ende des Stückes, wenn sie alle gemeinsam Leonora Rexhepi gen Himmel heben.

„Stellt euch vor, es ist der Kosovo“, sagt Candeloro zu den Männern und Frauen, „auferstanden aus den Trümmern, strahlend und trotz des Krieges immer noch da.“ Als Sead Vuniqi sich wenig später schwer atmend am Rand der Bühne abstützt, sagt er: „Ich habe oft gehört, was die erste Generation des Balletts für Opfer gebracht hat. Ich möchte ihnen und meinem Land etwas zurückgeben.“

So wie das ganze Land ist auch das Ballett wieder auferstanden. Das erste Ballett des Kosovo wurde 1972 gegründet, mitten hinein in ein Jugoslawien, das eigentlich keine Nationen kennen wollte. Als die Konflikte im Vielvölkerstaat zunahmen, musste auch das Kosovo Ballett aufgeben, das war 1991. Zehn Jahre herrschten dann Krieg und Tristesse, niemand dachte an Ballett. >>>>

Choreograph Candeloro weiß, dass dieses Nationalballett eine besondere Aufgabe hat: Vergewisserung.

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