Viele Argumente und eine offene Frage

  • In der Festhalle fand am Mittwochabend der große Infoabend im Vorfeld des Bürgerentscheids am 9. November statt. Foto: Simon Wagner

Bad Urach Am Mittwochabend trafen Befürworter und Gegner einer möglichen Amazon-Ansiedlung in der Festhalle aufeinander. Nicht alle Fragen wurden abschließend geklärt.

Rund 220 Zuschauer in der Bad Uracher Festhalle, um die 300 zugeschaltet per Livestream: Die Bürgerinfoveranstaltung im Vorfeld des Bürgerentscheids zur möglichen Ansiedlung des Onlinehändlers Amazon in Form eines Verteilzentrums in Hengen traf am Mittwochabend auf großes Interesse. Gut zwei Wochen vor dem Bürgerentscheid am Sonntag, 9. November, hatten Interessierte also die Möglichkeit, Argumente dafür oder dagegen zu hören. Moderator Rüdiger Straub lud die Diskutanten – Bürgermeister Elmar Rebmann, Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom Bürgerforum Hengen sowie Stella Shah, Standortleiterin des Verteilzentrums in Sindelfingen, und Martin Andersen, Country Director Amazon Logistics, und Prof. Dr. Markus Nawroth, Geschäftsführer der IHK Standortagentur Neckar-Alb – eingangs dazu ein, Klartext zu reden, im Sinne all jener, die sich bei der „wegweisenden Entscheidung“ noch unsicher sind.

Gemessen daran fielen die Antworten, die da vom Podium kamen, zeitweise aber erstaunlich blass aus. Beispielsweise als ein Fragesteller im Saal erklärt bekommen wollte, wie es einem Verteilzentrum als Teil der Amazon-Logistikkette überhaupt möglich sei, Gewinne zu erwirtschaften. Schließlich berechne sich hieraus die anfallende Gewerbesteuer. Aber weder die Amazon-Vertreter noch Bürgermeister Rebmann hatten trotz mehrmaligem Nachhaken eine Antwort parat, die den Fragesteller befriedigte.

Wertschöpfung vor Ort

Amazon beabsichtige, eine GmbH als eigenständige Firma vor Ort zu gründen, gab Rebmann die Absichtserklärung des Unternehmens wieder. Möglich sei es also, dass der Konzern den erwirtschafteten Gewinn, so wie andere Unternehmen auch, im Zuge einer Zerlegung auf seine Standorte verteile. Er jedenfalls, Rebmann, gehe davon aus, dass Gewinne erwirtschaftet und Steuern gezahlt werden. Martin Andersen beließ es beim Hinweis, dass er kein Steuerfachmann sei. Konkreter wurde es in dieser Sache nicht. „Wo ist die Sicherheit?“, meldete sich der hörbar unzufriedene Fragensteller zu Wort. „Die wichtigste Frage können Sie nicht beantworten“, kritisierte er.

Eingangs ging Rebmann in seinem Plädoyer pro Ansiedlung noch auf die Wertschöpfung vor Ort ein. Sie trage dazu bei, dass die Stadtkasse mehr Einnahmen verzeichne, die allen Bad Urachern zugutekommen, etwa für Kindergärten, Schulen, Vereine oder Infrastruktur wie Straßen oder Wasserversorgung. Nach mehr als 30 Jahren ohne konkrete Anfragen wurde in Amazon außerdem ein ansiedlungswilliges Unternehmen für das ausgewiesene und 8,8 Hektar umfassende Industriegebiet „Rübteile II“ gefunden. Vermittelt zunächst ohne Nennung des Interessenten über die Standortagentur Neckar-Alb, habe man umgehend den Gemeinde- und Ortschaftsrat informiert, als klar gewesen sei, dass es sich um Amazon handelte. Damit wies Rebmann den Vorwurf der Geheimniskrämerei als unberechtigt zurück.

Mit dem Verkaufserlös seien zudem die gesamten Erschließungskosten gedeckt, wovon andere Betriebe auf den noch zur Verfügung stehenden rund 3,5 Hektar profitieren könnten.

Hinzu komme, dass mindestens 150 wohnortnahe Arbeitsplätze und damit Perspektiven für junge Menschen und Teilzeitbeschäftigte aus der Stadt und Region geschaffen würden. „Ziel ist  Fortschritt, aber mit Erhalt unseres Lebensumfelds, unserer Gemeinschaft und unserer Heimat“, warb Rebmann für ein „Ja“ am 9. November. „Zahllose Kommunen würden sich glücklich schätzen, wenn sie solche Anfragen bekämen. Insbesondere angesichts der massiven Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg“, so Rebmann weiter.

Kritik an Ansiedlung

Die Gegenposition hierzu nahmen Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom Bürgerforum in Hengen ein. Beides ausgewiesene Kritiker der möglichen Ansiedlung. Klar sei, so Kiefer, dass es immer wieder neue Ansiedlungen von Unternehmen brauche und daher auch die Albhochfläche in den Blick genommen werde.

Im landwirtschaftlich geprägten Hengen, wo rund 80 Menschen im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt seien, müsse aber die Aufgabe von Agrarflächen mit Augenmaß geschehen. Aber gleich gut die Hälfte jener 8,8 Hektar an einen international arbeitenden Konzern abzugeben, der derzeit unter Beobachtung mehrerer Kartellbehörden stehe, entspreche seiner Ansicht nach nicht diesem Anspruch.

Es sei im Übrigen niemand so naiv zu glauben, dass der örtliche Einzelhandel gestärkt werde, sollte das Verteilzentrum nicht kommen. Ob es gebaut wird oder nicht, mache keinen Unterschied, wie viele Amazon-Vans in Baden-Württemberg unterwegs seien. Es mache aber durchaus einen Unterschied, ob man sich am Rande eines Verteilgebiets befinde oder in seinem Zentrum, befürchtet er ein Vielfaches an Verkehr. Derlei Zentren, so findet er, gehörten dorthin, wo eine gute Verkehrsinfrastruktur gegeben sei, also in die Nähe von Autobahnen oder mehrspurigen Bundesstraßen. Die Steigen in und um Urach herum im Hinterkopf, bezeichnete Kiefer den Bau eines Amazonlagers in Hengen als eine der schlecht möglichsten Varianten. In Zweifel zog indessen Wörz das erstellte Verkehrsgutachten, würden die darin verwendeten Zahlen doch von Amazon selbst stammen. Zudem habe die Stadt keinerlei Handhabe, sollte der Verkehr doppelt so hoch ausfallen.

„Wir sind 78 Mal gute Nachbarn“

Das besagte Verkehrsgutachten relativierte derweil Martin Andersen. Die darin verwendete Maximalprognose habe nichts mit dem realen Betrieb zu tun. Er rechnet beispielsweise mit noch nicht einmal 20 Lkw-Ankünften pro Nacht, also dann, wenn es ruhig auf den Straßen ist.

Ab etwa 10 Uhr würden dann 25 bis 30 Vans in mehreren Wellen aufbrechen. Und: „Unsere Fahrer werden nicht dafür bezahlt, im Stau zu stehen“, versicherte er das Interesse von Amazon an einem reibungslosen und verzögerungsfreien Ablauf. Die bereits bundesweit existenten Standorte im Auge, versicherte er: „Wir sind 78 Mal gute Nachbarn. Wir wollen lange bleiben und das geht nur, wenn man sich benimmt und Vereinbarungen einhält.“

Im späteren Verlauf wies Rebmann auf eine Vereinbarung mit Amazon hin, die den Lieferfahrzeugen eine Durchfahrt durch Hengen und Wittlingen bei angedrohter Vertragsstrafe verbietet, sofern sie nicht dorthin ausliefern. Der Verkehr soll so hauptsächlich über die Bundesstraße und zu einem kleinen Teil über das Fischburgtal fließen.

Warum sich Amazon nicht an der Autobahn etwa in Merklingen ansiedele, wollte ein Besucher von Andersen wissen. „Wir beliefern ja nicht nur Menschen, die an der Autobahn wohnen“, so seine Antwort. Ob sich Amazon verantwortlich, für das Ladensterben in deutschen Städten verantwortlich fühle? „Wir können ja nicht steuern, wohin der Kunde geht“, so Andersens Replik.

Stella Shah verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass Amazon vielen Einzelhändlern eine Verkaufsplattform biete. „Wir sehen uns als Ergänzung und nicht als Alternative“, betonte sie. Und wie es mit der Tarifflucht und mit den Arbeitnehmerrechten bei Amazon aussieht, wollte ein weiterer Besucher wissen. „Ja, es stimmt, dass wir von Tarifverträgen Abstand genommen haben“, bestätigte Andersen, „weil wir übertariflich zahlen.“ Und was die Gründung von Betriebsräten betrifft, seien alle Mitarbeiter herzlich eingeladen, einen solchen zu gründen, wenn sie wollen, sagte Andersen.

Gemeinsamer Aufruf

Ob Gegner oder Befürworter, am Ende des rund zweieinhalbstündigen Abends waren sich derweil alle darin einig, dass möglichst viele Bürger am 9. November von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen sollten. Denn wie auch immer das Votum ausfallen mag, je mehr Menschen am Bürgerentscheid teilnehmen, desto höher die Akzeptanz des Ergebnisses. Ob es nun pro oder contra Amazon ausfallen wird.

Zahllose Kommunen würden sich glücklich schätzen, wenn sie solche Anfragen bekämen. Elmar Rebmann Bürgermeister der Stadt Bad Urach

Wir beliefern ja nicht nur Menschen, die an der Autobahn wohnen. Martin Andersen Country Director Amazon Logistics

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