Am Ende keine Zweifel mehr
Reutlingen Im Fenstersturz-Prozess: 30-Jähriger erhält wegen gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung elf Jahre Haft – Sicherungsverwahrung vorbehalten.
Staatsanwalt Florian Fauser hatte 12 Jahre Haft bei anschließender Sicherungsverwahrung gefordert, Verteidigerin Maria Tunc einen Freispruch für ihren Mandanten beantragt. Es habe sich um einen Indizienprozess gehandelt, bei dem die Anträge von Staatsanwalt und Verteidigung weit auseinanderlagen, erläuterte der Vorsitzende Richter Armin Ernst.
Letztlich habe es weder daran, dass der Angeklagte sein Opfer in der Reutlinger Asylbewerberunterkunft rücklings aus dem Fenster gestoßen habe noch an der späteren Vergewaltigung des Schwerstverletzten vernünftige Zweifel gegeben. Von dem Sturz trug der damals 26-Jährige unter anderem einen Leberriss und mehrere Frakturen davon. Er konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden.
Nahezu regungslos und meist mit gesenktem Kopf verfolgte der Angeklagte die einstündige Urteilsbegründung. Als objektive Beweismittel zog Ernst unter anderem die Aufzeichnungen der Überwachungskameras heran. Noch einmal rekapitulierte er den Nachmittag des 6. November 2024 an dem der Angeklagte gemeinsam mit seinem späteren Opfer und einem weiteren Bewohner zunächst in dessen Zimmer Marihuana konsumiert hatte. Später seien die beiden ins Zimmer des Geschädigten gegangen, wo sie Wodka getrunken hätten. Das Geld sowohl für die Drogen als auch den Alkohol hätte der Angeklagte vom Opfer erhalten, ob freiwillig oder nicht, wisse man nicht.
Was zum Streit und dem anschließenden Fenstersturz führte, konnte nicht geklärt werden. Ebenso unklar blieb, warum der Angeklagte den Verletzten von der dunklen Absturzstelle ums Haus trug, wo er ihn auf dem beleuchteten Grünstreifen ablegte. Dass es dort zu der angeklagten Vergewaltigung kam, auch daran hatte das Schwurgericht keinerlei Zweifel, zumal das Sperma des Angeklagten im Anus des Opfers gesichert werden konnte. Auch wurde der Geschlechtsverkehr von mehreren Passanten als nicht einvernehmlich beschrieben. Der Angeklagte habe sich nicht einmal davon, dass eine der Zeuginnen ihm mit ihrer Handtasche auf das nackte Gesäß schlug, von seinem Vorhaben abhalten lassen.
Bei der rechtlichen Würdigung des Fenstersturzes wich die Kammer von der Auffassung des Staatsanwaltes ab. Aus dem versuchten Totschlag wurde eine gefährliche Körperverletzung. Der Angeklagte habe mit seiner Tat zwar den Tod des jungen Mannes billigend in Kauf genommen. Als er aber realisiert habe, dass der Mann den Sturz überlebt habe, habe er nicht weiter versucht, ihn umzubringen. Deshalb habe es sich „um einen sogenannten unbeendeten Versuch“ gehandelt.
Keinerlei Anhaltspunkte für einen minder schweren Fall gebe es bei der Vergewaltigung. Der Angeklagte habe mit seinem wehrlosen Opfer in aller Öffentlichkeit ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt. Fast könnte man meinen, dass ihn das noch angeturnt habe. Ernst: „Was soll denn noch Schlimmeres passieren bei einer Vergewaltigung?“ Zugunsten des Angeklagten spreche lediglich, dass er zum Zeitpunkt der Tat noch nicht vorbestraft war.
Für die gefährliche Körperverletzung hielt das Schwurgericht eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren, für die Vergewaltigung sieben Jahre für tat- und schuldangemessen. Zusammen mit einer Verurteilung des Amtsgerichts Reutlingen, die der Angeklagte derzeit absitzt, wurde daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren gebildet.
Für die vom Staatsanwalt geforderte anschließende Sicherungsverwahrung sah die Kammer nicht alle Voraussetzungen erfüllt. Dass bei dem 30-Jährigen ein „Hang“ zu weiteren schweren Straftaten bestehe, davon könne aufgrund der bisherigen Erkenntnisse noch nicht ausgegangen werden.
„Er ist nicht der klassische Täter der Sicherungsverwahrung“, so Ernst. Weder habe er eine Strafe abgesessen, noch habe es therapeutische Maßnahmen zur Besserung gegeben. Allerdings bedauerte er, dass man nicht wisse, wie sich sein bisheriges Leben in Afghanistan gestaltet habe. Noch sei beim Angeklagten „nicht Hopfen und Malz verloren“. Deswegen habe die Kammer die „vorbehaltliche Sicherungsverwahrung“ ausgesprochen, was bedeute, dass nach der Verbüßung der Strafe bei einer Nachverhandlung festgestellt werden müsse, „ob von ihm keine Gefahr mehr ausgeht“. Der Angeklagte sei ein Kandidat für die Sozialtherapie auf dem Hohen Asperg, so Ernst abschließend. Diese müsse er aber auch nutzen.
Was soll noch Schlimmeres passieren bei einer Vergewaltigung als das Geschehen hier? Armin Ernst Vorsitzender Richter